Regelrecht von der Strasse gekehrt
Die Polizei hat bei Protesten für faire Wahlen in Moskau hart durchgegriffen und über 1000 Personen verhaftet. Die Mächtigen erhöhen den Druck.
Die Polizei hatte die Leute längst eingekesselt, in die Seitenstrassen gedrängt und in kleinere Gruppen gespalten. Doch die Menschen, die da in Sommerkleidern und kurzen Hosen den schwergerüsteten Sondereinsatzkräften gegenüberstanden, hörten nicht auf zu rufen. Dass Moskau ihre Stadt sei. Dass sie freie Wahlen wollen. «Putin ist ein Dieb», riefen sie und «Lasst sie zu!». Damit meinen sie diejenigen Oppositionspolitiker, deren Kandidatur die Behörde bislang blockieren. Diese Gruppe unbeugsamer Kandidaten, die die Menschen dazu aufgerufen hat, sich zu wehren.
Seit zwei Wochen demonstrieren die Moskauer regelmässig, mal Hunderte, mal Tausende, für eine faire Lokalwahl im September. Nun haben die Mächtigen in Moskau den Druck erhöht. Sie wollen die Leute von der Strasse haben. Und an diesem Samstag haben sie sie regelrecht von der Strasse gekehrt. Hunderte Einsatzkräfte warteten vor dem Sitz des Bürgermeisters.
Dort haben sie die Leute, Demonstrierende und Passanten gemeinsam, vom Platz geschoben, in kleine Gruppen gespalten und viele festgenommen. Wer an diesem Samstagnachmittag zu laut rief, den fischten die Sicherheitskräfte mit Gewalt aus der Menge und nahmen ihn mit, während die anderen ihnen «Schande» hinterherriefen. Am Nachmittag zählte die Bürgerrechtsorganisation Owd-Info bereits 630 Festnahmen, da war die Demo noch gar nicht vorbei. Am Abend gab die Polizei bekannt, dass sie 1074 Personen wegen «verschiedener Vergehen» festgenommen habe.
Weniger Protestierende als vor einer Woche
Schon vorher war vermutet worden, dass die Behörden dieses Mal ein Zeichen der Stärke setzen würden. Sie hatten bereits gewarnt, zur Demo zu kommen. Zwar kamen tatsächlich deutlich weniger Protestierende als vor einer Woche. Damals waren es mehr als 22'000 gewesen. Doch anders als der Protest vor dem Rathaus war die Demo vergangenes Wochenende genehmigt gewesen – es war eine dieser Kundgebungen im abgesperrten Bereich mit vorheriger Taschenkontrolle.
Und damals jubelte die Menge dieser kleinen Gruppe Oppositionspolitiker zu, die sich gegen die Willkür der Wahlbehörden wehren. Etwa ein Dutzend wollen sich nicht damit abfinden, dass sie nicht für das Stadtparlament kandidieren dürfen, weil sie angeblich die Auflagen nicht erfüllen. Der Widerstand hat sie zu einer Einheit werden lassen, obwohl sie keiner gemeinsamen Partei oder derselben Organisation angehören.
Unter ihnen ist der ehemalige Duma-Abgeordnete Dmitrij Gudkow, ausserdem Lokalpolitiker wie Ilja Jaschin und Julia Galjamina, die in ihren Wahlbezirken bereits bei den Kommunalwahlen 2017 Mandate gewonnen haben. Es sind auch Mitstreiter von Alexej Nawalny darunter wie die Juristin Ljubow Sobol. Sie alle mussten mehrere Tausend Unterschriften in ihren Wahlbezirken sammeln, um für die Abstimmung für das Stadtparlament zugelassen zu werden. Doch dann hat die Wahlkommission ihre Listen nicht anerkannt, Unterschriften als gefälscht bezeichnet oder Personen wegen Übertragungsfehlern davon gestrichen. Sie hat sie als nicht existent erklärt.
Wenig beachtete Lokalwahl ist zum Symbol geworden
Was früher für die Behörden zur Routine gehörte, ist nun zur politischen Krise geworden. Die Menschen protestieren dagegen, dass sie keine Stimme bekommen, dass sie im wahrsten Sinne des Wortes gestrichen werden. Dass die Behörden sie lieber nicht mitzählen, als sie der Opposition zuzurechnen. Am Samstag setzten sich Demonstranten auf den Bürgersteig und sangen: «Wo ist meine Unterschrift?» Es geht ihnen längst um etwas Grundsätzlicheres als nur um das nächste Stadtparlament. Eine sonst wenige beachtete Lokalwahl ist zu einem Symbol geworden. Die bisher vor allem in Moskau bekannten Kandidaten sind für die Demonstrierenden nun beinahe Helden.
Die haben es am Samstag gar nicht mehr bis zur Demo geschafft. Einige sind auf dem Weg dorthin vorübergehend festgenommen worden, andere bereits in den vergangenen Tagen. Am Dienstagabend durchsuchten Polizisten die Wohnungen mehrerer unabhängiger Kandidaten, darunter die des früheren Duma-Abgeordneten Gudkow, nahmen seine Computer und Festplatten mit. Am Mittwochmorgen griffen sie Oppositionspolitiker Alexej Nawalny auf, der sich zwar nicht zur Wahl stellen wollte, die Proteste aber unterstützt. Inzwischen sitzt er für 30 Tage im Gefängnis, weil er dazu aufgerufen hatte.
Am Donnerstag haben Sicherheitsleute dann Nawalnys Mitstreiterin Ljubow Sobol aus den Räumen der Moskauer Wahlkommission getragen. Sie hatte dort auf Mitglieder der Wahlkommission gewartet und gefordert, dass diese ihre Unterlagen noch einmal prüfen. Am Freitag wurde bekannt, dass die Staatsanwaltschaft gegen mehrere unabhängige Kandidaten für das Stadtparlament ermittelt. Abends nahmen sie Ilja Jaschin fest, der den ersten Protestzug vor das Rathaus vor zwei Wochen angeführt hatte.
Es scheint, als versuchten die Behörden, das Problem mit einer Demonstration von Stärke zu lösen. Doch die grosse Polizeipräsens, die lange Reihe vergitterter Busse, die gepanzerten Fahrzeuge, Sondereinsatztruppen, die langen Ketten Uniformierter haben auf die Demonstrierenden scheinbar wenig Eindruck gemacht. Dort, wo die Sicherheitskräfte eine Gruppe einkesselten, einen Strassenabschnitt sperrten, bildete sich gleich davor eine neue Traube Menschen, die auf Polizei und Behörden schimpften. So schob sich die Menschenmenge auch am Abend noch weiter durch die Innenstadt, und die Polizei hielt mit Blockaden und Festnahmen dagegen.
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