Sopranistin Rachel Harnisch hört auf«Ich versuchte, die innere Leere mit Affären zu füllen»
Nach ihrem überraschenden Rücktritt rechnet die Sängerin Rachel Harnisch mit dem Klassikbetrieb ab. Ein Gespräch über Talent, Selbstblendung und Rauchen.
Über Ostern publizieren wir aufsehenerregende Texte der letzten Monate nochmals. Dieser Artikel erschien erstmals am 14.3.2024.
«2023 beendete Rachel Harnisch ihre erfolgreiche Karriere», steht auf Ihrer Website. Wie kam es dazu?
Meiner Entscheidung ist ein langer Prozess vorausgegangen, aber irgendwann war es für mich einfach klar. Ich wurde seither schon oft gefragt, ob ich denn nichts vermisse. Und wissen Sie was? Ausser den vielen tollen Begegnungen, die ich erleben durfte, vermisse ich wirklich nichts.
Und wie steht es mit dem Singen?
Ich singe mehr als sonst. Ich trällere mit meinen Kindern mit, wenn im Radio ihr Popsternchen läuft. Da bin ich unbeschwerter. Und ich geniesse es, auch mal eine Zigarette mehr zu rauchen, ohne daran zu denken, was morgen ist.
Weshalb haben Sie Ihre Karriere beendet?
Ich hatte immer eine konfliktreiche Beziehung zu dem, was ich mache und was mich ausmacht. Das Singen hat über mein Leben bestimmt, darüber, was ich gegessen habe, darüber, wo ich wann zu sein hatte. Das war viel zu oft in Widerspruch zu dem, was ich eigentlich wollte. Aber ich sah keine Möglichkeit, von diesem Weg abzuweichen.
Nun haben Sie es dennoch getan. Warum?
Ich möchte nicht alle Gründe nennen, aber es war Zeit, gesund und glücklich zu werden. Corona war wie ein Ventil: Plötzlich fiel alles aus – und ich war einfach nur froh, mich endlich ausruhen zu können. Schon da merkte ich, dass ich das Herumreisen und die Auftritte gar nicht vermisse. Ich konnte eine nie erlebte Nähe zu meinen Kindern aufbauen, weil ich einfach für sie da sein konnte. Zum anderen half mir der Tod meiner Mutter. Das mag brutal klingen, aber das war für mich eine Befreiung.
Inwiefern?
Ich hatte meine ganze Kindheit lang das Gefühl, nicht richtig in mein Umfeld zu passen. Vor zwei Jahren habe ich schliesslich herausgefunden, dass ich einen anderen Vater habe. Eigentlich hatte ich das schon immer gespürt, ich wusste auch, wer es ist. Meine Mutter hat es zeitlebens abgestritten und letztlich kurz vor ihrem Tod erst zugegeben. Das Unausgesprochene hat unsere Beziehung sehr belastet. Ich habe meine Mama geliebt und sie mich auch, aber es war kompliziert.
«Ich wollte mir eine Existenzberechtigung verschaffen.»
Welche Rolle spielten Ihre Eltern in der Entscheidung, Sängerin zu werden?
Ich merkte sehr früh, dass in mir etwas ist, das sich ausdrücken will. Dass es meine Stimme wurde, war aber Zufall. Irgendwann fiel mein Talent auf, und es war klar, dass das etwas Ausserordentliches ist. Ich wurde nie gedrängt, der Weg, den ich ging, war irgendwie … logisch. Aber ich hatte immer das Gefühl, mir selbst hinterherzulaufen. Und das war vielleicht der Grund, warum es sich für mich nie so ganz stimmig anfühlte. Weil es nicht selbst gewählt war.
Es schien aber ein Weg zu sein, der Ihnen leichtfiel.
Ich hatte einen starken inneren Antrieb zur Perfektion und Topleistung. Rückblickend glaube ich, dass ich mir damit eine Existenzberechtigung verschaffen wollte. Denn als uneheliches Kind aus einem Seitensprung durfte ich ja eigentlich gar nicht da sein. Dadurch, dass ich auf den Bühnen so sichtbar wurde, konstruierte ich mir dieses Recht. Aber das ist natürlich eine Selbstblendung. Die Rechnung ist nie aufgegangen.
Trotzdem waren Sie plötzlich auf den grossen Bühnen der Welt.
Ja. Aber Erfolg ist keine Glückssache, das ist ein Trugschluss. Erfolg bringt einen in eine Welt voller Privilegien und Luxus, die im Innersten tot ist. Eine Zeit lang reiste ich um den Globus, ich wurde überall abgeholt und hingebracht, lebte in den schönsten Hotels. Aber ich war innerlich leer. Ich versuchte, die Leere mit Affären zu füllen. Ich geriet in eine massive Essstörung. Ich entfernte mich immer weiter von mir selbst, obwohl ich glaubte, auf der Suche nach mir zu sein.
Und die Auftritte selbst, das begeisterte Publikum: Konnten Sie zumindest daraus Energie oder Freude schöpfen?
Die Lektion, die ich in den vielen Bühnenjahren gelernt habe, ist eine Lektion über die Liebe. Die Liebe sollte geben, ohne dass sie etwas zurückfordert. Aber ich muss ganz ehrlich sagen, ich habe die Erfüllung durch das Singen nicht wirklich erfahren. Und ich merkte irgendwann, dass ich nicht länger die nötige Leidenschaft dafür aufbringen konnte. Aber natürlich spürte ich, wie viele Menschen ich mit meiner Kunst berühren konnte.
Redet man hinter der Bühne miteinander über solche Dinge?
Nein. Wie oft habe ich erlebt, dass alle eine Fassade aufrechterhalten! Das ist völlig paradox, denn auf der Bühne musst du dich vollkommen öffnen. Du gehst in die wirklich tiefen Emotionen rein, gibst dich zerbrechlich. Du musst alles zulassen, was du Backstage gerade abgewiesen hast. Es wäre doch viel einfacher, wenn man einfach zugeben könnte: Ich bin jetzt gerade gestresst, ich habe Angst. Aber alle kämpfen für sich, und die Kämpfe sind hart. Das sage ich in der luxuriösen Position einer Sängerin, die gut verdient und vieles erreicht hat.
Hatten Sie eine falsche Vorstellung davon, wie es wird, Sängerin zu sein?
Definitiv. Ich kannte lange nur die eine Seite der Medaille. Erst mit meinem Engagement an der Wiener Staatsoper begann mein Bild zu bröckeln. Der Stress, die Machtkämpfe. Man meint, frei und unabhängig zu sein, aber da ziehen andere die Fäden. Ich wünschte, ich wäre besser vorbereitet gewesen.
Wäre das eine Aufgabe der Hochschulen?
Das fängt eigentlich viel früher an. Es ist eine Aufgabe der Eltern, Selbstbewusstsein und Selbstwert zu stärken. Aber ja, die Hochschulen … Das Beste, was man für die Studierenden tun kann, ist, ein gutes Fundament zu bauen, damit sie nicht zerbrechen, wenn es dann nicht so gut läuft wie gewünscht. Man muss sie darauf vorbereiten, dass der Markt, auf den sie hinarbeiten, vielleicht nicht mehr da ist, wenn sie ihren Abschluss machen.
«Wenn etwas so gut läuft, kannst du es ja nicht einfach sabotieren.»
Haben Sie sich Ihrer Karriere, gerade weil sie so gut lief, besonders verpflichtet gefühlt?
Mit dem Erfolg steigt das Gefühl von Verantwortung. Wenn etwas so gut läuft, kannst du es ja nicht einfach sabotieren. Wie aber bleibt jemand motiviert, der nur ein Zehntel von dem erreicht hat, was ich erreichen durfte? Ich bewundere solche Menschen zutiefst. Aber wir sind verschieden in der Kraft und der Energie, die wir mobilisieren können.
Wo haben Sie während über 20 Bühnenjahren die Kraft gefunden, weiterzumachen?
In der Musik, in der Grossartigkeit von Kompositionen, in der Faszination für Menschen, denen ich begegnen durfte. Aber etwas hat sich verändert, als ich meinen Mann kennen gelernt habe. Der mich liebt, für das, was ich bin, und nicht für das, was ich tue. Und dann sind die Kinder gekommen. Mit ihnen eine bedingungslose Liebe. Ich werde von meinen Kindern nicht bewertet, ihnen ist es egal, ob ich berühmt bin oder nicht.
Entschieden Sie sich fürs Aufhören, ohne zu wissen, was danach kommt?
Mir war klar: Ich kann nicht einfach zu Hause sitzen und Mutter sein. Was mich schon immer interessiert hat, ist die forensische Psychiatrie. Aber das hätte bedeutet, ein Medizin-, ein Rechts- und ein Psychologiestudium zu absolvieren. Dafür bin ich definitiv zu alt (lacht).
Nun studieren Sie Psychologie.
Ja, ich bin jetzt im dritten Semester an der Fernuniversität. Es lässt sich ideal mit der Betreuung meiner Kinder vereinbaren – ich bin zu Hause präsent, habe aber geistiges Futter. Es ist genau das, was mir gefehlt hat. Es füllt eine Leere in mir.
Hilft Ihnen das Studium, Ihre eigene Situation zu verarbeiten?
Ich glaube, ich kenne mich recht gut, fast zu gut. Mich hat die Konfrontation immer schon interessiert. Die Frage, was ich von mir in eine Rolle hineingeben kann. Und dann die Konfrontation mit mir selbst: Was macht das mit mir? Wie schütze ich mich, wie viel lasse ich zu? Irgendwie ist es ein logischer Schritt, diese bewussten und unbewussten psychischen Vorgänge auf einer wissenschaftlichen Ebene ergründen zu können. Aber ich glaube, mit dem Blick eher von mir weg gerichtet.
Was ist Ihr berufliches Ziel?
Das Feld der Psychologie ist breit. Ich möchte anderen dabei helfen, den Blick nach innen zu richten und ihre Konflikte zu verstehen. Ich möchte anderen Menschen Wege aufzeigen, die aus einer Problematik herausführen.
Welche Rolle wird künftig die klassische Musik in Ihrem Leben spielen?
Momentan eine sehr untergeordnete. Ich glaube aber, mit einer gewissen Distanz kann ich dann auch wieder unbeschwert in ein Konzert gehen und es geniessen. Ohne zu analysieren und alles im Kopf zu zerpflücken.
Fehler gefunden?Jetzt melden.