Kommentar zum Moskauer Tag des SiegesPutin nutzt die Geschichte als Legobausatz
Der Kremlführer verdreht historische Tatsachen, um seinen Angriffskrieg zu rechtfertigen. Trotzdem sollte sich der Westen rhetorisch zurückhalten.
Der Westen, die USA und insbesondere die Nato sollen also schuld sein am Krieg in der Ukraine. Russland habe aus einer Not heraus agiert, präventiv sozusagen, sagte Wladimir Putin am Tag des Sieges über das nationalsozialistische Deutschland. Wobei er den Angriff auf die Ukraine, die Annexion der Krim vor acht Jahren und den Zweiten Weltkrieg in eine Reihe stellte.
Damit nutzt der Kriegsherr im Kreml einmal mehr die Geschichte als persönlichen Legokasten. Historische Ereignisse sind für ihn wie bunte Bausteine, die er beliebig zusammensetzen kann. Dabei sind die Unterschiede zwischen dem Krieg in der Ukraine, den er ja bereits 2014 mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim begann, und dem Zweiten Weltkrieg offensichtlich: Damals war Deutschland der Aggressor, die Sowjetunion, zu der Russland gehörte, stand vor der Niederlage. Heute ist Russland der Aggressor, und der Ukraine drohte der Kollaps.
Die Verteidiger kämpften so aufopferungsvoll, dass sie den Angriff stoppen konnten, 1941 knapp vor Moskau, 2022 knapp vor Kiew.
Allerdings gibt es auch Parallelen, nur widersprechen sie diametral Putins Geschichte aus dem Baukasten: In beiden Fällen kämpften die Verteidiger so aufopferungsvoll, dass sie den Angriff stoppen konnten, 1941 knapp vor Moskau, 2022 knapp vor Kiew. Und beide Male war die Waffenhilfe von Verbündeten mitentscheidend: Heute wären die ukrainischen Streitkräfte chancenlos ohne die Drohnen und Panzerabwehrraketen aus dem Westen. Und auch die Rote Armee konnte die Wehrmacht nur aufhalten, weil die USA und Grossbritannien Tausende Flugzeuge und Panzer, Lastwagen und Fertigmahlzeiten geliefert hatten. Davon will Putin nichts mehr wissen.
Grundsätzlich ist der 9. Mai zu Recht ein hoher Feiertag in Moskau. Es war an erster Stelle die Sowjetunion, die die nationalsozialistische Bestie niederrang, was auch im Westen längst anerkannt wird. Der britische Historiker Antony Beevor schrieb von einem «kolossalen sowjetischen Opfer»: Buchstäblich jede Familie war betroffen, 27 Millionen Menschen wurden getötet, 14 Millionen davon Zivilisten (Deutschland: 6,4 Millionen Tote, davon 1,25 Millionen Zivilisten).
Putin versucht, der Ukraine ihre Geschichte – und damit ihre Identität – zu rauben.
Anders jedoch, als der Kreml insinuiert, erbrachten dieses Opfer nicht nur die Russinnen und Russen, sondern auch alle anderen Völker der Sowjetunion, insbesondere die Ukrainerinnen und Ukrainer. Als Teil der Sowjetunion hatten sie ganz besonders unter der deutschen Besatzung gelitten. Entsprechend war die Ukraine am 9. Mai 1945 am heroischen Sieg über das nationalsozialistische Deutschland beteiligt. Putin aber versucht, der Ukraine ihre Geschichte – und damit ihre Identität – zu rauben.
Bislang erfolglos, denn die westliche Unterstützung für die Verteidiger zeigt Wirkung. Wenig hilfreich ist es jedoch, wenn in amerikanischen Medien – ganz zum Ärger von Präsident Joe Biden – damit geprahlt wird, die CIA habe den Ukrainern ermöglicht, das russische Flaggschiff Moskwa zu versenken. Solche Geschichten helfen nur Wladimir Putin bei der Pflege seines Feindbilds Nato. Für den Westen kann es in der Ukraine nur heissen: «Keep calm and carry on» – «bleib ruhig und mache weiter». Das ist eine britische Devise. Sie stammt aus dem Zweiten Weltkrieg.
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