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Italiens Wiederaufbau
Plötzlich träumen sie von der Brücke der Superlative

So könnte die Brücke von Messina eines Tages aussehen. Die Simulation stammt aus dem Jahr 2001.
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Irgendwann wird das Schicksal der Steppenweihe wieder aufs Tapet kommen, ganz bestimmt. Der «Circus macrourus» ist ein Raubvogel, er gehört zur Gattung der Habichtartigen. Wenn es die Steppenweihen im Winter jeweils in den Süden zieht, runter nach Afrika, dann passieren sie die Meerenge von Messina, jene schmale Stelle zwischen Tyrrhenischem und Ionischem Meer, an der sich Sizilien und der Kontinent beinahe berühren. Am engsten Punkt sind es nur ein paar Kilometer. Was wäre wohl, wenn da plötzlich eine Brücke mit einer Spannweite von 3,3 Kilometern über dem Wasser hängen würde? Es gab schon Studien dazu, ob die Veränderung des Panoramas die Vögel aus dem Konzept bringen würde. Und mit ihnen natürlich auch ganz viele Menschen.

Archimedes machte sich schon Gedanken

Seit Jahrzehnten, ja seit Jahrhunderten diskutieren die Italiener schon darüber, ob es nicht gescheit wäre für den Handel und die Logistik, wenn ihre grösste Insel an die Halbinsel angebunden würde, Sizilien an Kalabrien, Messina an Reggio Calabria. Mit einer tollen Hängebrücke, einem symbolischen Paradebau, der nach Zukunft riecht. Oder mit einem Tunnel. Archimedes machte sich schon Gedanken, das ist sehr lange her. Die ersten konkreten Entwürfe gab es dann vor 150 Jahren. Spätestens seit 1970, als Italien einen internationalen Wettbewerb veranstaltete, redet man ernsthaft. Doch immer kam etwas dazwischen. Mal war es ein Regierungswechsel, mal eine Wirtschaftskrise.

Hang zum Grössenwahn: Silvio Berlusconi investierte 300 Millionen Euro in Machbarkeitsstudien für die Brücke.

Am weitesten trieb das Projekt Silvio Berlusconi voran, ab 2005. Und weil der Mailänder nun mal einen Hang zum Grössenwahn hat, hiess es immer, er wolle sich da selbst ein Monument setzen. Berlusconi liess eine Betreiberfirma gründen, investierte 300 Millionen Euro in Machbarkeitsstudien, bis die Pläne fertig ausformuliert waren. Auf der kalabrischen Seite standen schon Holzprofile. Doch dann kam Mario Montis Sparkabinett, das Italien vor dem Bankrott retten sollte. 2012 wurden die Brückenpläne verworfen, andere Dinge waren wichtiger, die Betreibergesellschaft musste dichtmachen. Es fehlte in der Vergangenheit einfach oft am nötigen Geld.

Eine neue Kommission, ein frischer Blick

Nun ist die Debatte zurück, und das ist kein Zufall. Aus dem Wiederaufbaufonds der Europäischen Union stehen Italien 209 Milliarden Euro zu, es sind Zuschüsse und Kredite zu guten Bedingungen. Nie war mehr Geld da für kühne Würfe, für ein umfassendes Neudenken der Infrastrukturen des Landes, vor allem im nachhinkenden Süden. Und da wäre die trockene Überquerung des «Stretto di Messina», auf dem heute nur Fähren für Autos und Fähren für Züge verkehren, natürlich von allen Projekten das suggestivste. Sizilien könnte dann auch an das Netz der Hochgeschwindigkeitszüge angeschlossen werden, das bei der Gelegenheit vielleicht endlich von Salerno nach Reggio Calabria ausgebaut würde – und weiter nach Catania und Palermo. Wann, wenn nicht jetzt?

Das italienische Transportministerium hat nun eine Kommission aus Technikern und Professoren berufen, von denen es heisst, sie seien politisch unabhängig und hätten sich bisher noch nie mit dem Dossier beschäftigt. Man will einen frischen Blick auf das Grossprojekt, allerdings soll es schnell gehen. Bis Ende Oktober haben die Herrschaften Zeit, um alle Varianten zu prüfen. Der Entscheid liegt dann bei der Politik. Eigentlich kommt nur die Brücke infrage: Die Pläne liessen sich einfach aus der Schublade ziehen, sie sind noch frisch. Kosten würde sie etwa vier Milliarden Euro. Und Erfahrung im Brückenbauen haben die Italiener auch, wie sie gerade in Genua gezeigt haben, dort entstand in Rekordzeit eine neue.

Conte verwirrt mit seiner Präferenz

Kürzlich aber überraschte Ministerpräsident Giuseppe Conte alle mit seiner Begeisterung für die Tunnelvariante eines pensionierten Ingenieurs. Er pries sie an als ein «Wunder der Ingenieurskunst», und so steht der Ideenwettbewerb wieder offen. Der Wunderingenieur heisst Giovanni Saccà, kommt aus Messina, ist 68 und hat weder je eine Brücke noch je einen Tunnel entworfen: Saccà ist Elektroingenieur. Karriere machte er bei den Staatsbahnen, er installierte für sie Leitungsmasten, Ampelanlagen, solche Dinge. Im Ruhestand begann er dann, sich für die Tunnelfrage unter dem «Stretto di Messina» zu interessieren. Um seiner Expertise mehr Gewicht zu geben, sagt er oft: «So machen es die Norweger.» Oder: «Solche Pläne haben auch die Schweizer.»

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Nur, da gibt es ein Problem: Die Gegend ist Erdbebenzone, ausgerechnet, Zona rossa. 1908 zerstörte ein Beben der Stärke 7,2 Messina und Reggio Calabria, zwischen 90’000 und 120’000 Menschen kamen um. Die Option eines Bohrtunnels unter dem Meeresboden ist deshalb ausgeschlossen. Aber was ist mit Saccàs Idee, in die Meerenge von Messina den ersten «Submerged Floating Tunnel» der Welt zu legen – einen Schwebetunnel unter der Wasseroberfläche also, der von seinem hydrostatischen Auftrieb getragen würde? Die italienischen Zeitungen zeigen Simulationen, sieht spektakulär futuristisch aus. Doch fragt sich, ob die Meeresströmungen nicht zu stark sind. In der Strasse von Messina sind sie dermassen stark und legendär, dass die griechische Mythologie gleich zwei Meeresungeheuer an den Gestaden verortet hat: Charybdis und Skylla.

«Sizilien wäre dann weniger Insel, weniger stolz, vielleicht aber auch etwas weniger melancholisch.»

Andrea Camilleri, sizilianischer Autor

Doch auch die Brücke ist umstritten, wissenschaftlich und ästhetisch. Starke Winde würden an ihr zerren. Die zwei Pylonen an den Ufern, die über ihre Seile die Struktur tragen würden, wären wohl den Launen geologischer Verwerfungen ähnlich stark ausgesetzt wie die Tunnelröhren unter dem Meeresboden. Und dann ist da natürlich noch das Problem der Steppweihen auf ihrem Wanderflug in den Süden.

Viele Sizilianer halten das ganze Ansinnen ohnehin für ein historisches Sakrileg, für einen Verrat an Wesen und Seele ihrer Heimat: Ihre Insel wäre keine Insel mehr. Der grosse sizilianische Schriftsteller Andrea Camilleri war gerade deshalb immer ein Befürworter des Landanschlusses: «Eine Brücke würde die gesegnete und zugleich verdammte ‹Sizilianitüde› beenden: dieses Gefühl von Isolation und Einsamkeit», sagte er einmal. «Sizilien wäre dann weniger Insel, weniger stolz, vielleicht aber auch etwas weniger melancholisch.»