Urgestein im ParlamentPaul Rechsteiner tritt zurück – Zeitpunkt vor Wahl bewusst gewählt
Nach 36 Jahren nationaler Politik ist Schluss: Der St. Galler Ständerat hört nach der Dezembersession auf und will die Linke für die Nachfolge in die Poleposition bringen.
«Ich denke, es ist jetzt erlaubt», sagt der St. Galler SP-Ständerat Paul Rechsteiner dem «St. Galler Tagblatt» zu seinem Rücktritt. «Es ist keine allzu grosse Überraschung: Ich werde nicht mehr kandidieren», sagt der 70-jährige Politiker. «Überraschender ist wohl, dass ich bereits im Dezember, also per Ende der Wintersession, zurücktreten werde.»
Und warum macht er das noch vor den Wahlen im Herbst 2023? «Ich habe den Zeitpunkt deshalb gewählt, weil er zu einer Einervakanz und einer separaten Ersatzwahl in St. Gallen führt.» Rechsteiner hofft, dass damit die Linke den Sitz im Ständerat halten kann. «Im Herbst stehen die Nationalratswahlen im Vordergrund, sie sind parteipolitisch geprägt. Die Einervakanz erlaubt der Bevölkerung, schon vorher zu entscheiden, wie es mit der St. Galler Vertretung im Ständerat weitergeht.»
Bürgerliche Konkurrenz überrumpelt
Was Rechsteiner so nicht sagt: Er und seine SP überrumpeln die bürgerliche Konkurrenz. Wenn FDP und SVP den Sitz in ihre Reihen zurückholen wollen, müssen sie jetzt in aller Hast eigene Kandidaturen lancieren.
Paul Rechsteiner ist in St. Gallen aufgewachsen und wurde Rechtsanwalt. Er stieg 1977, mit 25 Jahren, in die Politik ein. Zuerst sieben Jahre als Mitglied des St. Galler Stadtparlaments, danach als Kantonsrat. 1986 wurde er in den Nationalrat gewählt. Er machte sich schnell einen Namen als leidenschaftlicher Linker, scharfer Debattierer und schnelldenkender Jurist.
Nationalen Einfluss gewann er 1998 mit seiner Wahl zum Präsidenten des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB). Es war ein Bruch mit der Tradition: Erstmals stand nicht mehr der Präsident eines Mitgliederverbandes an der Spitze des SGB. Rechsteiner wurde bewusst als «politischer Kopf» gewählt, der dem Bundesrat und dem Parlament Dampf macht. Zu Rechsteiners wichtigsten gewerkschaftlichen Erfolgen zählt die Einführung der flankierenden Massnahmen zum Lohn- und Arbeitsschutz 2004.
Wahlerfolg gegen Toni Brunner
2011 schlug er im Ständeratswahlkampf überraschend den damaligen Präsidenten der SVP Schweiz, Toni Brunner. Bis dahin hatten FDP und CVP, die heutige Mitte-Partei, fast 40 Jahre lang die beiden St. Galler Sitze untereinander ausgemacht.
2018 wurde Rechsteiner von Pierre-Yves Maillard an der Spitze des SGB abgelöst. Im Jahr darauf wählte ihn das St. Galler Volk erneut problemlos in den Ständerat.
Seinen Rücktritt aus dem Ständerat hat der gewiefte Taktiker nun so gelegt, dass die St. Galler Wahlberechtigten bereits im Frühling seine Nachfolge bestimmen müssen. Das ist im kantonalen Wahlgesetz so festgelegt. Am Wahltag im März wird also nur ein Ständeratssitz zur Disposition stehen. Diese Konstellation erhöht die Chancen der SP, im bürgerlich dominierten Kanton ihren Sitz behalten zu können.
Viele mögliche Frauenkandidaturen
Mögliche SP-Kandidatinnen sind Barbara Gysi und Claudia Friedl. Die beiden sind zwar bereits Nationalrätinnen, aber sie verfügen nicht über die Strahlkraft des langjährigen Gewerkschaftschefs. Die Geschäftsleitung der St. Galler SP beschliesst laut einer Mitteilung am 24. Oktober, wen sie ins Rennen um die Nachfolge Rechsteiners schicken will.
Mit Bestimmtheit will die FDP den Ständeratssitz zurückholen, den sie 2019 nach der Wahl von Karin Keller-Sutter in den Bundesrat verloren hatte. Gewählt wurde damals der Mitte-Politiker Beni Würth. Bereits als mögliche freisinnige Kandidatin gehandelt wird Nationalrätin Susanne Vincenz-Stauffacher. Die Anwältin politisiert seit drei Jahren in Bern. Seit 2020 ist sie zudem Präsidentin der FDP-Frauen Schweiz.
Die SVP, bei St. Galler Ständeratswahlkämpfen bisher immer erfolglos, hat schon lange vor Rechsteiners Rücktrittsankündigung mehrfach Ambitionen angemeldet, seinen Sitz beerben zu wollen. Als Ständeratskandidatin im Vordergrund steht dabei Nationalrätin Esther Friedli. Die Politologin ist aber auch im Gespräch als Kandidatin für die Nachfolge von Ueli Maurer im Bundesrat.
Ihre Wahl würde einer gewissen Ironie nicht entbehren: Friedli ist die Lebenspartnerin Toni Brunners, der 2011 in der Ständeratswahl von Rechsteiner knapp geschlagen worden war. Die Wahl in den Bundesrat findet am 7. Dezember statt. Falls Friedli dann nicht in den Bundesrat gewählt würde, wäre der Weg für die Ständeratskandidatur offen.
Sich selbst als Ständeratskandidat positioniert hat sich aber auch Nationalrat Roland Rino Büchel. Er war 2019 erfolglos zur Ständeratswahl angetreten, stellte aber laut dem «St. Galler Tagblatt» noch am Wahltag in Aussicht, in vier Jahren einen neuen Anlauf zu nehmen. Ständeratsambitionen werden schliesslich auch Regierungsrat Stefan Kölliker nachgesagt.
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