Corona-Reportage aus FrankreichParis erwacht nur langsam aus dem Lockdown
Vieles, was das Leben in der französischen Hauptstadt ausmachte, lässt sich nicht so einfach in die Gegenwart retten. An vielen Orten ist es gespenstisch ruhig.
In Paris kriegt man normalerweise nichts geschenkt, vor allen Dingen nicht hier, genau im Zentrum. Trotzdem will der Falafelverkäufer jetzt lieber sein Essen loswerden, als auf die fehlenden fünf Euro zu warten. Mit Kreditkarte kann man bei ihm nicht zahlen, und das Bargeld reicht nicht. «Egal», sagt der Mann, «was haben Sie?» Dann nimmt er die paar zusammengesammelten 20-Cent-Stücke und füllt ein Fladenbrot. «Sonst werde ich hier ja heute nie was los.»
Nach acht Wochen strikter Ruhe erwacht die Stadt langsam wieder. Doch eher wie jemand, der noch blinzelnd im Bett sitzt und sich nicht sicher ist, ob es sich wirklich lohnt, den Tag zu beginnen. In der Metro bitten Aufkleber darum, immer jeweils einen Sitz frei zu lassen. Ausserhalb der Stosszeiten ist das nicht sonderlich schwer – mit den öffentlichen Verkehrsmitteln fährt nur noch, wer wirklich muss. Die unterirdischen Gänge sind ungewohnt leer. Die Touristen fehlen, ebenso all die Millionen Pendler, die nach wie vor vom Homeoffice aus arbeiten. Auf den weissen Kacheln der Metro erzählen die Werbeplakate von einer anderen Zeit.
Wie weitermachen, wenn alles, was man liebte, im Rudel funktioniert?
Ausstellungen, Kinofilme, Theaterabende, Reisen nach Südfrankreich – das sind unerreichbar gewordene Verlockungen. Von einem möglichen Ende der Corona-Epidemie redet hier niemand. Es geht um die Frage, wie man sich mit dem Virus einrichtet. Und wenn so viele Pariser nun weiterhin freiwillig zu Hause bleiben, dass die Stadt noch ganz verschlafen wirkt, dann deshalb, weil sie vor einer unlösbaren Aufgabe stehen.
Wie Abstand halten in einer der am dichtesten bebauten Städte der Welt? Wie weitermachen, wenn alles, was man liebte, im Rudel funktioniert? Die Abende auf den Terrassen der Bars, die Essenseinladungen in die immer zu engen Wohnzimmer der Freunde, die Begrüssungen mit Rechts-links-Küsschen: Nicht jedes Ritual lässt sich mithilfe von Plexiglasbarrieren und Atemmasken in die Gegenwart retten.
Auf dem Pont Neuf sieht man das Seine-Ufer. Zu zweit, zu dritt, zu viert sitzen die Menschen nebeneinander. Noch sind alle Parks der Stadt geschlossen. Doch auch entlang der Seine und des Canal Saint-Martin, weiter im Norden, soll niemand auf die Idee kommen, sich zu entspannen. Am Montag war die Ausgangssperre noch nicht einmal 24 Stunden aufgehoben, als der Innenminister ein Alkoholverbot für Fluss- und Kanalufer aussprach. Am frühen Abend räumte die Polizei, begleitet von einem privaten Fernsehteam, den Canal Saint-Martin. Auf den Bildern der sogenannten Räumung sieht man Teenager und junge Erwachsene, die schon verunsichert aufgestanden sind, noch bevor die Polizei per Megafon anordnet, nach Hause zu gehen.
In der Stadt, in der die übliche Geschäftigkeit fehlt, werden nun diejenigen sichtbar, die man sonst übersieht. Vor den Filialen von Western Union stehen lange Schlangen – Einwanderer, die Geld nach Hause überweisen. Und auf der Place Dauphine, auf der Ile de la Cité mitten im Fluss, wo sonst laut lachende Amerikaner aus Plastikbechern Wein trinken, spielen nur ein paar alte Männer Boule. Das Leben hat sich verschoben.
74 Prozent mehr Tote in Paris
Zwischen der Rue de Rivoli und der hoch aufragenden Kirche Saint-Eustache ist es normalerweise eng. Nun haben die meisten Geschäfte darauf verzichtet, wieder zu öffnen. Die Fenster sind von innen abgeklebt. Früher war hier der Grossmarkt, die Halles centrales de Paris. Emile Zola hat sie in seinem Roman «Der Bauch von Paris» verewigt. 1969 wurden die Händler an den Stadtrand umgesiedelt, Europas grösster Lebensmittelmarkt, der Marché de Rungis, entstand.
Anfang April haben sie dort eine der Verkaufshallen zur Leichenhalle umfunktioniert. Fotos zeigen, wie die Holzsärge dicht nebeneinander stehen. Das französische Statistikamt hat die Zahl der Toten, die 2019 zwischen März und April starben, mit der Zahl der Toten verglichen, die von Anfang März bis Mitte April 2020 registriert wurden. In Paris ist die Sterberate um 74 Prozent gestiegen. Und so gehören die Friedhöfe zu den ersten Orten, die wieder geöffnet wurden.
Dienstagnachmittag am östlichen Eingang des Friedhofs Père-Lachaise. Sicherheitspersonal mit Plastikschutzschild vor dem Gesicht steht vor der heruntergelassenen Schranke. Sie wolle nur spazieren gehen, sagt eine Frau, sei das möglich? Nein, erklärt man ihr, nur Grabpflege auf Anmeldung. In den vergangenen Wochen war Père-Lachaise immer wieder in den Nachrichten – allerdings nicht wegen der Toten.
Auf dem Friedhof Père-Lachaise hat sich eine Fuchsfamilie eingerichtet
Während die Pariser acht Wochen lang ihre Wohnungen nur einmal am Tag für eine Stunde verlassen durften, richtete sich eine Fuchsfamilie auf dem Friedhof ein. Normalerweise suchen hier jährlich dreieinhalb Millionen Touristen nach den Gräbern von Edith Piaf, Jim Morrison und Oscar Wilde. Dieses Frühjahr war es so ruhig wie seit Jahrzehnten nicht, vier Fuchsbabys wurden geboren. Auf Videos sieht man, wie die Jungtiere über Grabsteine klettern.
Ein Stück weiter auf der Place de la Réunion, im Herzen des 20. Arrondissement. Eltern lassen ihre Kinder Velofahren üben, das erste Mädchen hat die Stützräder schon im Fahrradkorb liegen. Der Spielplatz ist abgeriegelt, zwei Jugendliche klettern über das Gitter und verschwinden unter dem Rutschenhäuschen. Sie tragen Maske, wie alle jetzt.
«Ich habe Sie so vermisst», ruft ein alter Mann, als er sieht, wie sich die Tür des Cafés öffnet und der Besitzer herauskommt, um eine Zigarette zu rauchen. «Wir sind jetzt illegal auf, kommen Sie durch die Hintertür», ruft der Cafébesitzer zurück. Der alte Mann springt sofort auf und läuft los. Schnelle Abwehrgeste auf der anderen Strassenseite – nein, nein, das war nur ein Scherz.
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