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Tötungsprozess am Zürcher Obergericht
«Wie hätte er voraussehen können, dass sie an den Schlägen stirbt?»

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Was auch immer in jenen zwei Tagen im Oktober 2017 in einer Familienwohnung in Affoltern am Albis geschehen ist, es muss unfassbar brutal gewesen sein. Am Ende lag die 29-jährige Ehefrau und Mutter tot in der Dusche.

Gestorben ist sie an massiven inneren Blutungen; Rechtsmediziner verglichen ihre Verletzungen mit jenen, die bei einer heftigen Kollision zwischen einem Fussgänger und einem Motorrad typisch sind. Der Tod müsse rasch, maximal innert Stunden eingetreten sein.

Für die Strafverfolger kam von Anfang an nur eine Person als Täter infrage: der 44-jährige Ehemann. Denn der hatte sich gleich selbst gestellt. An einem Donnerstagmorgen tauchte er auf dem Polizeiposten auf und erzählte, er habe seine Frau verprügelt, nun sei sie tot.

Das Problem war nur, dass der Tatablauf, den der Mann im Strafverfahren vor Bezirksgericht und jetzt vor Obergericht schilderte, so gar nicht zum Verletzungsbild passt.

Am Morgen danach war sie «ganz normal»

Anderthalb Tage vor seiner Selbstanzeige, an einem Dienstagabend, habe er sich mit seiner Frau geprügelt, erzählte der Mann. Weil sie wie so oft betrunken war, den neuen Fernseher kaputt gemacht und dem gemeinsamen, damals elfjährigen Sohn kein Essen zubereitet hatte.

Wie stark er denn geschlagen habe, wollte der vorsitzende Richter am Zürcher Obergericht von ihm wissen. «Sicher zu fest», antwortete der Beschuldigte. «Aber die Verletzungen, die sie hatte, stammen nur zum Teil von mir.» So heftig habe er dann doch nicht geschlagen. Zudem: Als der Junge während der Schlägerei heimkam, konnte sie aufstehen und ins Badezimmer flüchten.

Auch am nächsten Morgen sei sie «ganz normal» gewesen, über Mittag habe sie ihn angerufen. Am Nachmittag habe ihm dann der Sohn am Telefon erzählt, Mami liege «wie immer» auf dem Sofa. Er selbst habe den ganzen Tag gearbeitet, später sei er zum Fussballplatz gefahren und habe ein Spiel seines Sohnes angeschaut.

Was dann passierte, klingt bizarr.

«Ich wusste gleich, dass sie tot war»

Als Vater und Sohn heimkamen, fanden sie die Mutter im Gang vor, an die Wand gelehnt, Schaum vor dem Mund, mit Kot und Urin beschmutzt. Doch statt die Rettungsdienste zu rufen, trug der Mann seine Frau in die Dusche und brauste sie ab. «Ich wusste gleich, dass sie tot war», erklärte er dem Gericht, «aber irgendwie hoffte ich, dass sie noch lebte.» Zudem habe er sie öfter kalt geduscht, wenn sie betrunken gewesen sei.

Und dann war da ja noch das Kind. Das habe Hunger gehabt. Der Vater ging also einkaufen, kochte Abendessen, schickte das Kind ins Bett und legte sich ebenfalls schlafen. Seine Frau sei ja ohnehin tot gewesen. «Und ich wollte nicht, dass ich verhaftet werde und er in ein Heim muss.» Am Donnerstagmorgen brachte er den Jungen zu dessen Tante, dann stellte er sich. Die Rettungsdienste fanden die übel zugerichtete Leiche in der Duschwanne, mit einer Decke zugedeckt und einem Kissen unter dem Kopf.

Diese Geschichte klingt nicht nur krud, sie machte den Fall für die Gerichte schwierig. Denn sie steht im eklatanten Widerspruch zu den rechtsmedizinischen Befunden, die besagen, dass niemand die bei der Autopsie festgestellten Leberrisse mehr als ein paar Stunden überleben kann.

Und doch soll die Frau noch einen Tag «ganz normal» gewesen sein, bevor sie plötzlich starb?

Gab es noch mehr Gewalt – oder einen anderen Täter?

Für die Staatsanwältin war klar, dass da mehr gewesen sein muss als das, was der Beschuldigte erzählte. Irgendwann am Mittwochabend oder am frühen Donnerstag habe er sie wohl erneut traktiert: «Man muss davon ausgehen, dass der Beschuldigte dabei in blinder Wut, in Rage gehandelt hat.»

Damit sei auch klar, dass er den Tod der Frau nicht fahrlässig verursacht, sondern vorsätzlich herbeigeführt habe. «Jeder, der so handelt, weiss, was er damit bewirken kann.» Die Staatsanwältin beantragte eine Freiheitsstrafe von 17 Jahren. Hinweise darauf, dass jemand anders die Frau getötet haben könnte, gebe es nicht.

Der Verteidiger verlangte einen Freispruch. Die Ungereimtheiten seien zu gross für eine Verurteilung. «Niemand hat den Tatort auf mögliche Dritttäter untersucht, weil niemand von dieser Möglichkeit ausging», argumentierte der Verteidiger.

Einen Tötungsvorsatz könne man dem Beschuldigten nicht nachweisen. Gegenseitige Gewalt sei zwischen den Eheleuten leider üblich gewesen. «Er hat sie immer wieder geschlagen, sie hat zurückgegeben, und nie ist etwas passiert. Wie hätte mein Mandant an jenem Tag voraussehen können, dass sie an Schlägen stirbt, die nicht anders waren als sonst?»

Es muss am Mittwoch passiert sein

Die Gerichte machten sich die Sache nicht leicht. Schon das Bezirksgericht Affoltern am Albis liess im März 2020 beim Institut für Rechtsmedizin in Zürich ein Ergänzungsgutachten zur Frage einholen, ob jemand 24 Stunden mit einem Leberriss überleben kann. Drei Monate später verurteilte es den Mann wegen eventualvorsätzlicher Tötung zu elf Jahren Freiheitsstrafe. Es gebe keinen Zweifel an dessen Schuld, auch wenn er den Tod nicht gewollt habe.

Das Obergericht bestellte anlässlich einer ersten Verhandlung im November 2022 ein weiteres Gutachten bei der Rechtsmedizin Bern. Auch dieses sollte die Frage klären, ob die Schläge vom Dienstag Ursache für den Tod der Frau gewesen sein könnten. Das Gutachten liegt inzwischen vor, dessen klare Antwort ist nein.

Diese Woche fand nun der zweite Teil der Verhandlung vor Obergericht statt. Und das Gericht bestätigte das Urteil der ersten Instanz. Die Tat müsse sich in der Nacht auf Donnerstag ereignet haben. «Wir gehen davon aus, dass das Opfer am Mittwochabend noch lebte», sagte der Richter. Aber die Frau sei wohl betrunken gewesen.

Ein starkes Indiz dafür sei die Tatsache, dass ihr Mann sie regelmässig in die Dusche geschleppt habe, wenn sie alkoholisiert gewesen sei. «Es ist naheliegend, dass der Beschuldigte wütend war, weil er sie erneut besoffen auf dem Boden gefunden hatte.» Deshalb habe er sie in der Dusche mit roher Gewalt getreten. «Dass das zum Tod führen kann, ist auch medizinischen Laien klar.»

Und warum soll der Mann die Prügelei vom Dienstag zugegeben, jene vom Mittwoch aber verschwiegen haben? Für das Gericht ist das erklärbar. Am Dienstag habe es einen «normalen» Zweikampf gegeben – am Mittwoch sei die Gewalt hingegen einseitig vom Beschuldigten ausgegangen.

Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.