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Aus dem Zürcher Obergericht
Aus einer «Scheiss-Idee» wird eine Strafe von 15 Monaten

Rundgang am Freitag Abend ums Zürcher Seebecken (19.2.2021) in Zürich. Foto: Thomas Egli
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Hätte es diese eine Samstagnacht im November 2021 doch nicht gegeben, in welcher der 18-Jährige seinen Liebeskummer in Alkohol ertränkt, seine Unruhe wegkifft.

Zu sechst sind sie unterwegs, der 18-Jährige und seine Kumpels, als jemand auf die Idee kommt, eine Gruppe von Passanten zu umzingeln, Zigaretten und dann Wertsachen zu verlangen. Der 18-Jährige verpasst einem der Opfer eine Ohrfeige, ein Mittäter greift zum Pfefferspray.

Wenig später wiederholt sich die Szene, diesmal zückt der 18-Jährige ein Klappmesser, steckt es aber sofort wieder ein.

Er will seine Freundin stolz machen

Gut drei Jahre später sitzt er im grossen Saal des Obergerichts auf der Anklagebank und ist bemüht, einen guten Eindruck zu hinterlassen. Ein schwarz gekleideter Schlacks, der die Haare mit Glanz-Gel zurückgekämmt trägt und jünger wirkt als seine mitterweile 20 Jahre.

«Eine Scheissidee» sei das gewesen an jenem Abend, sagt er. «Ich bereue bis heute, was ich getan habe.» Alles, was er wolle, sei ein normales Leben. Seine Lehre als Maler abschliessen. Seine Freundin stolz machen. Vom Kiffen wegkommen. Alkohol rühre er schon länger nicht mehr an.

Alles, nur keine Massnahme

Doch all die schönen Pläne sind gefährdet. Die Staatsanwaltschaft beantragt 15 Monate Gefängnis, aufgeschoben zugunsten einer Massnahme für junge Erwachsene. Eine solche kann bis zum 25. Geburtstag dauern.

Das Bezirksgericht Zürich ist dem Antrag im Februar 2023 gefolgt. Es attestierte dem Beschuldigten eine grosse kriminelle Energie. Ohne langjährige Behandlung sei die Rückfallgefahr hoch, eine Massnahme deshalb unumgänglich.

Für die Verteidigerin ist die Strafe zu streng. Ihr Mandant habe an jenem Abend nicht geplant, jemanden auszurauben: «Es ist aus der Situation heraus passiert.» Der junge Mann habe die Tat mitbegangen – sein Entscheid sei sie nicht gewesen. Alkohol, Cannabis und der Trennungsschmerz hätten seine Steuerungsfähigkeit reduziert.

Vor allem will die Verteidigerin die angeordnete Massnahme abwenden. Und das hat mit der Lebensgeschichte ihres Mandanten zu tun, die sie kurz schildert.

Ein Leben voller abgebrochener Beziehungen

Als Baby kommt er in ein Kinderheim, später in eine Pflegefamilie. Mit 16, 17 Jahren verübt er reihenweise Delikte. Sein Jugendstrafregister führt unter anderem Raub, Körperverletzung, Pornografie und Hausfriedensbruch auf.

Im Sommer 2020 wird er im Jugendheim Burghof in Dielsdorf platziert. Der Start ist harzig, doch er lebt sich ein. Geborgenheit bietet ihm die Familie seiner damaligen Freundin. Hat er am Wochenende frei, schläft er bei ihr. Von seiner Pflegefamilie hat er sich entfremdet. Die leibliche Mutter lebt in Deutschland, zum leiblichen Vater hat er keinen Kontakt.

Doch dann gibt ihm die Freundin den Laufpass, nur Stunden vor dem Überfall am Utoquai hat er ihr den Schlüssel zurückgeben müssen. Für den jungen Mann, der längst an einem Bindungstrauma leidet, ein dramatisches Erlebnis, so die Verteidigerin.

«Sie haben sich wirklich gemacht»

Und nun drohe ihrem Mandanten erneut ein Abbruch von wichtigen Beziehungen. Denn wenn ihm das Gericht eine Massnahme aufbrumme, bestehe die Gefahr, dass diese nicht im vergleichsweise offenen Burghof vollzogen werde, sondern in einem geschlossenen Massnahmenzentrum.

«Ich müsste wieder bei null anfangen. Alles, was ich mir aufgebaut habe, wäre kaputt», sagt der Malerlehrling. 27 Monate hat er sich nichts mehr zuschulden kommen lassen, im Burghof sind sie zufrieden mit ihm.

Das anerkennt auch das Obergericht. Und es fällt ein ungewöhnliches Urteil. Denn für die vorsitzende Richterin und ihre beiden Mitrichter ist klar: Der 20-Jährige braucht eine Therapie. Nach dem Buchstaben des Gesetzes müsste das Gericht eine Massnahme für junge Erwachsene anordnen.

Aber für die Richterin ist auch klar, dass der Burghof der richtige Ort ist für den Beschuldigten. «Sie haben sich wirklich gemacht», sagt sie ihm. «Das wollen wir auf keinen Fall gefährden. Deshalb wählen wir einen Weg, der eigentlich nicht vorgesehen ist.»

Zwar ändert das Gericht nichts an den 15 Monaten Strafe, aber es verzichtet auf eine Massnahme. Stattdessen erteilt es dem 20-Jährigen die Weisung, Therapie und Lehre im Burghof weiterzuführen. Nach der Lehre muss er die Behandlung ambulant weiterführen. Und er erhält eine Bewährungshilfe. Bleibt er vier Jahre deliktfrei, muss er die Strafe nicht absitzen.

Selten hat man einen Beschuldigten gesehen, der dankbarer war für eine Verurteilung.