Neues Buch von Yasmina RezaHier wird dem Leben der Prozess gemacht
Die französische Stardramatikerin Yasmina Reza geht ins Gericht. Und trifft auf Menschen, deren Taten mit Paragrafen nicht erfasst werden können.

Da ist zum Beispiel Hubert Caouissin. Der hat die gesamte Familie seiner Frau umgebracht: «Den Bruder, seine Frau und ihre zwei Kinder – ein Riesengemetzel –, und dann die Leichen zerstückelt, ausgenommen und die Reste in alle vier Winde seines düsteren Hofs verstreut.»
Ein klarer Fall, was die juristische Klassifizierung angeht: vierfacher Mord. Und dennoch unbegreiflich. Denn Hubert, so beginnt Yasmina Reza ihren Bericht, «ist an sich kein schlechter Mensch, wie man sagt». Er hat eine trostlose Jugend hinter sich, ist an eine Frau geraten, die ebenso wenig Halt im Leben gefunden hat wie er selbst. Dann begann er, «böse Stimmen» zu hören, geriet also in eine Wahnwelt. Um die Tat zu verstehen, müsste man in diese Wahnwelt hinein, denn da ist «nichts, was das Schwindelerregende der Tat auf etwas Verstehbares herunterbrechen könnte», schreibt Reza.
Genau das versucht aber die vorsitzende Richterin. Sie fragt den Angeklagten aus, nach jedem Detail der Morde und der Zerstückelung, nach dem Warum jeder Teilhandlung, löchert ihn, um «Vorsatz» nachzuweisen. «Eine absurde Schikane», findet Yasmina Reza, die begreift, dass der Mörder die Leichen auf stümperhaft-hilflose Weise zum Verschwinden bringen wollte, damit die Tat wie nicht geschehen war. Die Richterin ist unfähig, den Fall anders als streng paragrafengemäss zu beurteilen: Sie «hat nicht gelernt, Kategorien hinter sich zu lassen», so das Urteil der Beobachterin.
Wir kennen Kategorien wie Schicksal nicht mehr
Ein anderer Fall, ein Schiffsunglück mit zwei Toten, der Kapitän des Rettungsschiffs wird angeklagt, denn es muss ein Schuldiger gefunden werden. Ein sinnloses Verfahren, findet Yasmina Reza: «Hier wird dem Leben der Prozess gemacht. Seiner Unvollkommenheit.» Und sie bedauert, dass wir Kategorien wie Schicksal nicht mehr kennen, wie noch die Antike, dass wir nicht begreifen, wie aus einem falschen Moment, an einem schlechten Tag das Leben umkippen, der Alltag zur Tragödie werden kann.
Seit einigen Jahren besucht die überaus erfolgreiche Theater- und Romanautorin Yasmina Reza («Der Gott des Gemetzels», «Serge») Gerichtsverhandlungen – es sind immer Strafverfahren –, bei denen mal Prominente angeklagt sind wie der ehemalige Staatspräsident Sarkozy oder der Islamwissenschaftler Tariq Ramadan, meist aber unbekannte, unauffällige Personen.
Menschen, die in ihre Taten hineingeraten sind. Oder sich durch sie aus einem unauflöslichen Dilemma befreien zu können glaubten wie die von der Sorge für ihre schwerstbehinderte Tochter überforderte Corinne W., die sie und sich mit einer Insulinspritze töten wollte (aber beide überlebten).
Es sind Menschen, die «ein banales, ein bisschen beschissenes Leben» führen, «in dem die Zeit einfach durchgebracht wird». Die an Herman Melvilles Helden Bartleby den Schreiber erinnern und seinen Schlüsselsatz: «Ich möchte lieber nicht.» Oder an die Gestalten auf den Fotografien von Diane Arbus, denen Reza einen Huldigungstext widmet: «Einsame Wesen, deren ganze Anstrengung dem Überleben gegolten hat. Überschminkte Verlassenheiten, mit den tausend Accessoires des Scheins versehen.» Und die sich dann nicht trauen, sich einem leblos auf dem Boden liegenden Obdachlosen zu nähern und wegen unterlassener Hilfeleistung angeklagt werden.
Eine Menschenbeobachterin mit tiefem Einfühlungsvermögen
Was Yasmina Reza hier bietet, sind keine Gerichtsreportagen, sondern Impressionen, oft nur wenige Seiten lang, vielfach lässt sie sogar das Urteil weg, überlässt sie es den Lesern, zu entscheiden. Sie tritt nicht als Juristin auf, die sie nicht ist, sondern als Menschenbeobachterin mit tiefem Verständnis und Einfühlungsvermögen und dem Wissen, wie leicht der «Schritt vom Wege» gemacht oder passiert ist.
Natürlich wird Yasmina Reza, der Dramatikerin, der Gerichtssaal auch zum Theater. Sie hat den – manchmal amüsierten, manchmal indignierten Blick für den grossen Auftritt, für Selbstinszenierung, für hohle Rhetorik und angemasste Rollen. Ein Angeklagter, der die Erwartungen der Justiz (und des Publikums) nicht erfüllt, hat es schwerer als einer, der das Spiel beherrscht.
Die Hilflosigkeit von Prozessen
«Récits de certains faits», Berichte über bestimmte Ereignisse, heisst der Band überaus bescheiden im Original. Die deutsche Übersetzung von Claudia Hamm trägt den durchaus treffenden Titel «Die Rückseite des Lebens». Die Vorderseite bilden Szenen aus Rezas eigenem Alltag, der sich zum Teil in Venedig abspielt. Verbindendes Motiv ist das unerbittliche Vergehen der Zeit, die sich nicht zurückdrehen lässt. Was vorbei ist, kommt nie wieder – und was getan ist, lässt sich nicht ungeschehen machen. Deswegen wirken Gerichtsprozesse, auch in diesem Buch, oft so hilflos.

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