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Neuer Netflix-Hit «Baby Reindeer»
Diese Geschichte haut jeden vom Hocker

Die Hauptfigur Donny Dunn wird jahrelang von einer Stalkerin belästigt, die Schuld sucht er aber auch bei sich.
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Serien, die auf realen Erlebnissen von Comedians basieren, sind keine neuzeitliche Erfindung. «Roseanne», eine der erfolgreichsten Sitcoms der Achtziger, sagt Hauptdarstellerin Roseanne Barr, basiere auf ihren Erfahrungen als Mutter, die an der Pleite vorbeibalanciere.

Chris Rock hat in «Alle hassen Chris» ganz offiziell seine eigenen Kindheitserlebnisse unter besonderer Berücksichtigung von Armut und Rassismus in Brooklyn verarbeitet. Aber ein Mann, der von jahrelangem Stalking, 40’000 unerwünschten E-Mails und der eigenen Vergewaltigung erzählt? Damit bewegte sich der britische Komiker Richard Gadd 2019, als er die Vorlage zur neuen Netflixserie «Baby Reindeer» auf die Theaterbühne brachte, wohl auf unerforschtem Gebiet.

Stephen King erteilt Ritterschlag auf X

Der Realitätsbezug, die offene Selbstbespiegelung machen die Serie zu dem, was sie ist, aber ganz ungefährlich ist so viel Wirklichkeit nicht – dazu später. Als Serie ist «Baby Reindeer» ein seltenes Juwel, irritierend, schockierend, schmerzhaft, in manchen Momenten fast lustig, man fiebert mit, teilt Ängste und kann nicht aufhören, hinzusehen. Den Ritterschlag hat der Serie der Thrillerautor Stephen King erteilt, der auf X kurz und bündig schrieb: «Holy Shit.»

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Am Anfang steht Hauptfigur Donny Dunn auf einem Polizeirevier und will eine Stalkerin anzeigen, die ihn schon seit Jahren nicht in Ruhe lässt. Warum, will der Polizist wissen, kommen Sie dann erst jetzt? Um die Frage kreist «Baby Reindeer», auf nie da gewesene und unnachahmliche Art. Seit ihrem Start vor zwei Wochen ist sie zum Renner bei Netflix geworden, und das liegt sicher auch daran, dass sie nicht so tut, als ob es auf diese Frage eine eindeutige Antwort gäbe.

Richard Gadd hat «Baby Reindeer» erlebt und geschrieben und spielt nun den strauchelnden Komiker Donny, der nur selten auf einer Bühne, dafür täglich hinter der Bar einer Kneipe steht. Da sieht man ihn in der zweiten Szene – eine Frau kommt rein, Martha (Jessica Gunning). Sie sei, sagt sie, erfolgreiche Anwältin, hat aber kein Geld, etwas zu bestellen.

Donny wundert sich nicht und spendiert ihr einen Tee, und man wünschte, er wäre nicht so nett. Martha ist es nämlich nicht. Martha taucht jetzt jeden Tag auf, und bald findet Donny heraus, dass sie tatsächlich Anwältin war, aber wegen eines krassen Stalking-Falls vorbestraft ist.

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Er schlittert dann halt so hinein, hat Mitleid, wenn sie ihre E-Mails von Hand mit «Sent from my iphone» unterschreibt (sie hat gar keins), geht mit ihr an ihrem Geburtstag aus. Er erschrickt erst, als sie seine Website gefunden hat und seine Auftritte kritisiert.

Doch dann wieder überschüttet sie ihn mit Komplimenten, kommt zu seinen Auftritten. Er findet ihre Wutausbrüche unangenehm, aber ihr Interesse schmeichelhaft. Es gehört zu den Tugenden von «Baby Reindeer», dass die Rollen von Gut und Böse so unübersichtlich verteilt sind – Martha tut einem manchmal leid, und oft spiegelt sie das Verhalten ihres Opfers, als wär sie sein Dämon. Auf eine Art wollen beide dazugehören, auf eine Art ist Donny so besessen von ihr wie sie von ihm. Und vielleicht erkennt er sich selbst in ihr. Auch er will jemand anderes sein, und langsam packt die Serie aus, warum.

Er wird vergewaltigt, will es aber nicht wahrhaben

Der Weg führt dann zurück: Hat er sich, befragt sich Donny, selbst eingebrockt, was ihm fünf Jahre zuvor passiert ist? Es ist geradezu qualvoll, ihm dabei zuzusehen, wie er immer wieder zu einem Fernsehproduzenten geht, den er bei einem Festival in Edinburgh kennen gelernt hat, als er, comedytechnisch, ganz am Boden war.

Offensichtlich macht dieser Kerl mit Drogen einen jungen Mann gefügig und hat keineswegs im Sinn, seiner Karriere auf den Weg zu helfen, das sieht jeder – ausser Donny. Dass er vergewaltigt wurde, will Donny nicht wahrhaben, sein Selbstwertgefühl aber ist trotzdem dahin. Genau das wird Martha, die selbst keins hat, ausnutzen.

«Baby Reindeer» stellt die Opferperspektive ganz grossartig auf den Kopf – es gibt aber bei Stalking keine automatische Selbstbeteiligung, da führt jede Verallgemeinerung, jedes Herunterbrechen auf einfache Antworten unweigerlich in den moralischen Morast. Bei Martha kann man darüber streiten, ob sie irgendwie auch Opfer ist und nicht nur Täterin. Beim TV-Produzenten scheint der Fall klar.

Die realen Bezüge der Serie aber haben zu Entgleisungen von Fans geführt – zum einen wird ein echter britischer Produzent verdächtigt, das Vorbild für die Serienfigur zu sein, was Richard Gadd zurückweist. Er habe, sagt er, die Figuren so weit verändert, dass man sie nicht mehr erkennen könne. Dennoch sind in sozialen Medien nun Fans der Serie unterwegs, die glauben, zu wissen, wer Martha ist.

Eine «echte» Martha will Gadd verklagen

In der britischen Klatschpresse gibt es ein Interview mit einer Frau, die behauptet, sie sei mit Martha gemeint, aber alles habe sich ganz anders zugetragen und sie werde Gadd verklagen. Spätestens hier, bei Spekulationen über echte Menschen, geht die Vermengung von Entertainment und Realität eindeutig zu weit. «Baby Reindeer» ist, bei allen Bezügen auf die Wirklichkeit, nur eine Serie, eine sehr individuelle, subjektive, manchmal bestimmt fiktionalisierte Erzählung.

Was wäre los, fragt Donny einmal, wenn das alles einer Frau passieren würde? Die Antwort lautet: nichts. Die Mutmassung, Frauen würde gut geholfen, sich gegen Stalker zu wehren, ist falsch. Und obwohl vergewaltigt zu werden, häufiger ein Problem von Frauen ist, gibt es kaum Filme oder Serien über Frauen, die mit den Folgen kämpfen, ausser vielleicht Michaela Coels «I May Destroy You» von 2021.

Die Serie wurde aber lange nicht so heiss gehandelt wie nun Baby «Reindeer». Dafür hat es dann schon einen Mann gebraucht. Dieser Umstand soll die Verdienste von «Baby Reindeer» nicht schmälern, er gehört aber zur Wahrheit dazu.

«Baby Reindeer», sieben Folgen, bei Netflix.