«Nein, es braucht keine westlich-liberale Leitkultur!»
Theaterpionier Johan Simons nennt sich einen weissen, alten Mann. Aber er hat Häuser geleitet, wo es abgeht – politisch, divers, künstlerisch. Jetzt kommt seine «Unterwerfung» in die Schweiz.
Die Idee Europa ist politisch in der Krise, aber Sie haben in Bochum 2018 ein europäisches, «grenzenloses» Theater ausgerufen. Was heisst das?
Bochum war in der Theaterszene einst über den deutschsprachigen Raum hinaus ein Hotspot. Da wollte ich wieder hinkommen, auf neue Weise. Für mich kann Theater ganz grundsätzlich einer der lebendigsten Orte unserer Zeit sein – eine Bühne, um Fragen zu stellen, zu provozieren, quer zu denken. Und ich möchte behaupten, mit unserem internationalen, diversen Ensemble aus eben nicht nur weissen Schauspielern und mit unseren Experimenten sind wir nah dran an diesem humanistischen Theaterideal.
Eine mutige Einschätzung. Zumal das Theater heute ja ständig um seine Relevanz ringen muss.
Zugegeben, keiner kann aus seiner Haut, selbst ich nicht, als alter, weisser Mann – auch wenn ich gern eine Art unschuldiger Theatergott wäre. Aber: Wir sind unterwegs. Ein Beispiel: Letzten Sommer inszenierte ich «Hamlet» mit Sandra Hüller, Jahrgang 1978, in der Titelrolle. Hamlets Mutter wiederum wurde von der 1987 in Nairobi geborenen, schwarzen Schauspielerin Mercy Dorcas Otieno gegeben. Und diese Kombination wurde problemlos akzeptiert. Okay, unser weisser Blick mag da immer noch kurz stocken. Aber durch Häuser wie das Gorki-Theater in Berlin, Milo Raus NT Gent oder eben Bochum wird Diversität mit der Zeit so selbstverständlich wie wir sie im Alltag erleben. Dass sich der Rassismus dabei nicht von Jetzt auf Gleich wegzaubern lässt, das konnte man jüngst auch im deutschen und portugiesischen Fussball wieder sehen. Aber eben auch, dass die Debatte darüber läuft und das Bewusstsein sich entwickelt. Theater kann hier etwas beitragen.
Was reizte Sie daran, Michel Houellebecqs ganz und gar nicht optimistischen Roman «Unterwerfung» umzusetzen, der ein zwangsislamisiertes Frankreich im Jahr 2022 imaginiert?
Als ich die Inszenierung 2017 an die Hand nahm, wollte ich ausprobieren, wie das aussehen könnte, wenn in unserem christlichen Abendland plötzlich der Islam der dominante Glaube wäre. Ich habe damals extra ironisch besetzt, wenn man so will: So spielt bei mir etwa ein Schauspieler aus streng islamischer Familie, Mourade Zeguendi, einen aalglatten Sorbonne-Rektor. Schlimm? Überhaupt löst die moralische Fragwürdigkeit der «people of colour» in dem Stück bei uns ein Zusammenzucken aus. Nach dem Motto: «Darf man das?» Doch diesem Unbehagen muss man sich stellen. Einfache Zuschreibungen, gut und böse, gelten nirgends und für niemanden. Ich bleibe übrigens bei der Bezeichnung «people of colour», auch wenn ein Freund von mir neulich sagte, er sei ein Schwarzer und basta.
Also keine politische Korrektheit am Theater?
Auf keinen Fall! Wichtig ist aber, die diskriminierenden Strukturen abzubauen, damit Frauen und Minderheiten eine angemessene Repräsentation erhalten. Ich suche beispielsweise auch für die Dramaturgie «people of colour». Dass Frauen oft zu dekorativen Nebenfiguren degradiert sind, geht gar nicht. Das Klischee des schwachen Opfers gibts bei mir nicht – weder vor noch hinter der Bühne.
Auch nicht in Houellebecqs «Unterwerfung»? Dort werden Frauen ja als Ware skizziert. Der Niederländer Ruud Koopmans hat in der Frauenfeindlichkeit des fundamentalistischen Islam just einen schwerwiegenden Grund für die Stagnation solcher Gesellschaften ausgemacht.
Stimmt, wirklich gelöst ist die Gender-Problematik in meiner Inszenierung nicht. Aber ich habe probiert, Denkanstösse mitzugeben. Inzwischen bin ich selber weiter; und den «King Lear» von Shakespeare, den ich gerade erarbeite, versuche ich als antipatriarchalisches Stück zu lesen, mit einer starken Cordelia als Gegenentwurf.
«Ich glaube, dass sich Rassismus und Sexismus mit der Zeit erledigen werden.»
Braucht es, bei aller Diversität, eine neue westlich-liberale «Leitkultur», wie sie jüngst in Deutschland wieder heiss diskutiert wurde?
Nein! Ich glaube fest, dass sich Rassismus und Sexismus mit der Zeit erledigen werden. Und dies schon aus dem einen traurigen Grund: Das grösste Problem unserer Zeit ist hautfarben- und geschlechterübergreifend: die Erderwärmung. Um das Klima und unser aller Zukunft zu retten, müssen wir sowieso ohne Vorurteile zusammenarbeiten.
Wie spiegelt sich das Bemühen ums Klima am Theater – das auch nicht ohne Flugreisen auskommt?
Das Thema ist omnipräsent. So stellt sich etwa konkret die Frage, ob und wie man in «King Lear» den Sturm umsetzt. Als Bauernsohn kann ich vor William Shakespeares sehr gesundem Umgang mit den Naturgewalten nur den Hut ziehen. Im Vergleich zu uns ist er da revolutionär!
«Unterwerfung» ab 21.2. am Zürcher Schauspielhaus, Pfauen.
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