Autor Necati Öziri im Interview«Empathie ist bereits ein Politikum»
Sein Debüt «Vatermal» über einen vaterlosen jungen Mann stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. In Zeiten der Verrohung müsse die Kunst zeigen, dass die Welt so nicht sein dürfe, sagt Öziri.
Herr Öziri, das Aufwachsen ohne Vater ist in Ihrem Roman sehr zentral. Welche Konsequenzen hat das?
Es bedeutet fast immer das Aufwachsen in Armut. Wenn man sich die Armutsberichte der letzten Jahre anschaut, sieht man, dass fast die Hälfte der von Armut betroffenen Haushalte in Deutschland alleinerziehende Haushalte sind. Und es sind natürlich viel mehr alleinerziehende Mütter.
Weil die familiären Strukturen nach wie vor patriarchal geprägt sind?
Ja, wir leben in einer Welt, in der fast alles immer noch darauf ausgerichtet ist, dass der Vater der Alleinversorger ist. Eine weitere grosse Gruppe von Menschen, die in Armut leben, sind jene, die eine sogenannte Migrationsgeschichte haben. Und manchmal kommt eben beides zusammen, wie im Fall von meiner Figur Arda.
Arda ist in der Schule Rassismus ausgesetzt und verbringt viel Zeit seiner Jugend auf dem Ausländeramt.
Ja, Arda wächst in einer Gesellschaft auf, die ihm permanent sagt: «Du gehörst hier nicht hin, auf dich können wir verzichten!» Auch dieses Gefühl geht Hand in Hand mit dem Aufwachsen in Armut. Arda, seine Mutter Ümran, seine Schwester Aylin und seine Freunde am Bahnhof, das sind für mich die Verlierer der letzten zwanzig oder dreissig Jahre. Und über die schreibe ich.
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Seine alleinerziehende Mutter in «Vatermal» trinkt und kann sich irgendwann nicht mehr um ihre Kinder kümmern. Warum war es Ihnen wichtig, diese Frauenfigur so darzustellen?
Genauso wenig, wie es mich interessiert, die Figuren nur als Opfer der Verhältnisse darzustellen, interessiert es mich, die Geschichten von Heldinnen zu erzählen. Wenn ich dreidimensionale Charaktere darstellen will, gehört es dazu, ihre Fehler zu zeigen. Gerade Figuren, die einem rassifizierenden Blick ausgesetzt sind, müssen oft Superhelden sein, damit sie eine empowernde Funktion haben. Mein Verständnis von Empowerment ist aber ein anderes.
Welches denn?
Mir geht es nicht darum, wer am Ende gewinnt. Mir ist wichtig, wer wie viel Aufmerksamkeit bekommt. Das ist auch das Politische daran, weil dann keine Abziehbilder entstehen. Ich glaube, wenn man versteht, warum jemand tut, was er oder sie tut, dann wird kein Klischee daraus.
«Eine Gesellschaft wird nicht von heute auf morgen faschistisch.»
Sie wurden dafür gelobt, dass Sie den Frauenfiguren viel Platz geben. Ist das feministisch?
Ich weiss nur für mich: Wenn ich gute Figuren schreiben will, auch Frauenfiguren, dann muss ich ihnen Aufmerksamkeit widmen. Eigentlich ist es traurig, dass das schon als feministisch gilt. Und ihnen, also allen Figuren, immer mit Empathie zu begegnen, ist sehr wichtig. Empathie ist ja bereits ein Politikum.
Inwiefern?
Bei rechten Politikern und Wählern haben wir so viel Empathie. Wir fragen die ganze Zeit, woher kommt das nur? Und: Wir müssen ihre Ängste und Sorgen ernst nehmen, wir müssen endlich ihren Geschichten zuhören. Bei Migrantinnen und Migranten dagegen fragen wir uns das nie. Gerade deshalb ist es wichtig, diese ungehörten Geschichten zu erzählen. Wir leben in einer Zeit, in der Verrohung stattfindet. Eine Gesellschaft wird schliesslich nicht von heute auf morgen faschistisch. Das wird vorbereitet.
Erklären Sie das.
Ich muss meiner eigenen Menschlichkeit erst einmal etwas antun, damit ich mein Gegenüber permanent entmenschlichen kann. Ich muss mich von mir selbst entfremden, um jemand anderen zum Fremden erklären zu können. So werden wir darauf vorbereitet, dass irgendwann nichts mehr in uns passiert, wenn unsere Nachbarn abgeholt werden. Diesem Verrohungsprozess mit grösstmöglicher Empathie entgegenzuarbeiten, ist für mich politisch.
«Wenn Rassisten und Faschisten in der Regierung sind, geht es jedem an den Kragen, der die Freiheit liebt.»
In Ihrer Kunst, ob am Theater oder jetzt in Ihrem Roman, verhandeln Sie die Folgen von Migration. Kann Kunst überhaupt unpolitisch sein?
Gute Kunst, die genau hinschaut, kommt nicht drum herum, zu sehen, dass unsere Welt eine ungerechte und rassistische ist. Also wird meine Kunst auch davon erzählen müssen. Natürlich schreibe ich über Figuren, die eine Migrationsgeschichte haben. Aber ich suche darin das universell Menschliche.
Was kann Kunst ausrichten?
Kunst ist ein Frühwarnsystem. Sie kann Dinge fühlbar machen, und daraus entstehen hoffentlich Fragen. Die Antworten auf diese Fragen liegen aber ausserhalb der Kunst. Eine dieser Fragen, die sich jetzt wirklich alle stellen sollten, ist: Was kann ich heute dagegen tun, dass die Faschisten in Europa bald Regierungen stellen? Gründet Vereine, spendet an demokratiefördernde Organisationen, engagiert euch für die Seenotrettung von geflüchteten Menschen, tretet in die Parteien ein, humanisiert und demokratisiert ihre Programme wieder. Ich kann nur Vorschläge machen, am Ende muss jede und jeder eine eigene Antwort darauf finden.
Sie klingen alarmiert.
Eine Diktatur, eine faschistische Regierung, richtet sich irgendwann immer auch gegen ihre eigenen Bürgerinnen. Jetzt gerade sterben schon täglich Menschen an unseren Aussengrenzen. Die Verrohung und die Zerstörung sind längst da, der Zuspruch auch. Wir erleben eine Zeitenwende.
Was können wir tun: Uns trotzdem – oder erst recht – in Empathie üben?
Ja, viele Künstler und Künstlerinnen versuchen, Bücher zu schreiben, die das Gefühl mitgeben, so darf die Welt nicht sein, damit dann daraus etwas folgt. Das muss Kunst auslösen.
Necati Öziri ist am 9. Januar 2024 zu Gast im Kaufleuten Zürich.
Necati Öziri: Vatermal. Claassen-Verlag, 2023. 291 S., ca. 37 Fr.
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