Ausstellung in BaselDas Schaufenster als Inbegriff der Verführung
«Fresh Window» heisst eine hinreissende Ausstellung im Museum Tinguely über das Schaufenster in der Kunstgeschichte.
- Viele Künstler begannen ihre Karriere als Schaufensterdekorateure.
- Das Schaufenster ist ein beliebtes Sujet künstlerischer und fotografischer Werke.
- Das Museum Tinguely zeigt eine überaus faszinierende Ausstellung über Schaufenster und Kunst.
Selten hat eine Ausstellung so viel Spass gemacht wie «Fresh Window» im Museum Tinguely, eine so leichtfüssige wie tiefschürfende, historisch-assoziative Übersichtsschau über das Schaufenster. Dieses stand am Anfang der Karriere vieler Künstlerinnen und Künstler, die mit Dekorationsgestaltung ihr erstes Geld verdienten. Und das Schaufenster ist Thema vieler Kunstwerke, die sich in den letzten 150 Jahren mit Fragen der Wahrnehmung und mit soziokulturellen Prozessen beschäftigten.
Der Künstler Jean Tinguely selbst, dem das von Mario Botta erbaute Basler Museum im Besitz des Pharmariesen Roche gewidmet ist, war in seinen frühen Jahren Schaufensterdekorateur. Dutzende Schwarzweissfotos in der Ausstellung, die sich über drei Stockwerke erstreckt, erinnern an die grossartigen Fenster, die er für das Möbelgeschäft Wohnbedarf, die Buchhandlung Tanner, den Optiker Ramstein und das Modehaus Emmy gestaltet hat. Allesamt in Basel. Das war in den Jahren 1950 und 1951.
Den Lebensunterhalt verdienen
Auch zahlreiche andere Künstler, darunter keine geringeren als Jasper Johns, Robert Rauschenberg oder Andy Warhol, arbeiteten als Schaufensterdekorateure. «Sie taten dies, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, auch wenn diese Arbeit nicht besonders hoch angesehen war», erklärte der britische Künstler, Schauspieler und Poet Adrian Dannatt an der Pressebesichtigung vor Ausstellungseröffnung. Dannatt, ein grossartiger Erzähler und Führer durch die Ausstellung, hat als leitender Kurator diese fantastische Show in Zusammenarbeit mit Tabea Panizzi und Andres Pardey konzipiert.
Im dritten Raum stehen wir vor Andy Warhols «Bonwit’s Loves Mistigiri», einer Schaufensterdekoration, die auf Holzbretter gemalt wurde. Auf den ersten Blick sieht die 235 mal 256 Zentimeter messende Reproduktion des Originals, das verschwunden ist, wie ein Werk von Jean-Michel Basquiat aus – allerdings schon fünf Jahre vor dessen Geburt entstanden. 1955 hat Warhol mit witzigen Strichzeichnungen von Katzen und Pokerkarten für das Parfum Mistigiri geworben. Von der Schaufensterinszenierung zeugen auch mehrere Fotos.
Arbeiten unter Pseudonym
Jasper Johns und Robert Rauschenberg haben ihre Schaufensterdekorationen unter dem Pseudonym Matson Johns geschaffen, da sie ihre Künstlernamen nicht mit der kommerziellen Arbeit des Dekorateurs beschmutzen wollten. Ihre Dekorationen, sie sind für das Juweliergeschäft Tiffany & Co. entstanden, schauen aus wie holländische Stillleben aus dem 17. Jahrhundert. Ein paar wunderbare Fotos davon sind erhalten. Und die Ausstellungsmacher konnten auch ein Paar bemalte, aus Gips geschaffene Melonen und Granatäpfel auftreiben, die einst als Dekorationsobjekte ausgestellt waren.
Von zentraler Bedeutung für die Kunstgeschichte des Schaufensters ist Marcel Duchamps Skulptur «Fresh Widow» aus dem Jahr 1920. Aus einem achtteiligen, etwas zu klein geratenen französischen Fenster (es misst 79 mal 53 Zentimeter) – schuf der für seine vieldeutigen Titel bekannte Surrealist eine «Frische Witwe» – auf Englisch «Fresh Widow». Dazu liess er von seinem Schreiner die von einem grünen Rahmen gefassten Fenstergläser hinter schwarzem Leder verschwinden.
Das undurchsichtige Fenster
Aus dem Fenster, das einen Blick in die Welt ermöglicht oder auch Kaufanreize schafft und Illusionen befördert, wird aus Duchamps Skulptur, die zwei Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs entstanden ist, ein Grabmal für eine Geliebte: Für eine «Fresh Widow», wie die Witwen der gefallenen Soldaten damals genannt wurden. Auch dieses Werk gibt es nicht mehr im Original. Das Objekt in der Ausstellung ist eine Replik und stammt aus den Beständen der Tate London.
Vergleichbar mit Duchamp, der den Durchblick bei seiner Fensterskulptur blockiert, geht auch der Verpackungskünstler Christo vor. Er hat eine Ladenfront mit Glastür und Schaufenster kurzerhand mit Tüchern verhängt und das Ganze ins Museum gestellt. Aber ganz anders als bei Duchamp, dessen schwarzes Leder unsere Hoffnungen verschluckt, wird Christos Installation zu einem Motor der Illusionen. Was hinter dem Tuch in seinem Schaufenster läuft, das kann sich jeder und jede selbst denken.
Exponiert in der Wüste
Auch Elmgreen & Dragset, ein für seine Skulpturen berühmt gewordenes Künstlerduo aus Dänemark, haben dem Schaufenster ihre Reverenz erwiesen. In der texanischen Wüste, etwa eine halbe Autostunde vor dem Dorf Marfa, wo Donald Judd in den 1980er-Jahren lebte und arbeitete und eines der schönsten Museen der Welt aufbaute, haben sie im Jahre 2012 einen Shop der Luxusmarke Prada hingestellt.
Da kann niemand was kaufen, da gibt es nur Schuhe und Taschen zu bestaunen, weit abgeschlagen von jeder Zivilisation. Auch dieser Kunstladen ist ein Motor der Illusionen, der aber unsere Kauflust und unser Begehren nach Besitz nicht befriedigen will. Und er ist dank seinem exponierten Standort eine Skulptur, die einem nie mehr aus dem Kopf gehen will – egal ob man die Touristenattraktion besucht oder sie einfach auf einem Foto im Museum gesehen hat.
Bereits in der ersten Nacht nach der Eröffnung brachen übrigens ein paar Räuber in den verführerischen Luxusshop ein und klauten die Waren. War es ein Mundraub oder wollten sie beweisen, dass die Wüste kein Museum ist, in der Fragen der Wahrnehmung, der Verführung und der Selbstreflexion in einem geschützten Raum verhandelt werden können? Wir wissen es nicht. Immerhin, der Prada-Shop in der Wüste ist nun einbruchssicher gemacht, und im Museum Tinguely hängt er als prächtige Farbfotografie an der Wand.
Die Ausstellung im Museum Tinguely dauert bis zum 11. Mai 2025.
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