Kaufkraftstärkung im EilverfahrenMitte-links macht Tempo bei Hilfe für Wenigverdienende
Eine Mehrheit im Nationalrat will Personen mit geringem Einkommen über die AHV und die Krankenkassenprämien unterstützen – und zwar schnell. Aber ist das nötig und machbar?
Die Krankenkassenprämien steigen aufs neue Jahr erstmals seit Jahren wieder stark an, die Teuerung ist zurzeit mit 3,5 Prozent so hoch wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Eine knappe Mehrheit aus linken Parteien und Mitte hat am Mittwoch im Nationalrat Abfederungsmassnahmen zugunsten von Wenigverdienenden auf den Weg gebracht. Damit sie zur Umsetzung an den Bundesrat gehen, muss am Montag noch der Ständerat zustimmen. Dort wurden gleichlautende Vorstösse eingereicht.
Eine erste erfolgreiche Motion aus der Mitte verlangt, dass AHV- und IV-Renten sowie Ergänzungsleistungen ab 2023 an die Teuerung angepasst werden. Derzeit werden die Renten auf Basis eines sogenannten Mischindex angepasst. Dieser basiert neben der Teuerung auf der – im Moment tieferen – Lohnentwicklung.
«Die Rechtsgrundlage fehlt, das Geld fehlt, Handlungsbedarf ist nicht gegeben.»
Der zweite angenommene Vorstoss fordert, dass der Bund seinen Beitrag zur Finanzierung der Prämienverbilligung um 30 Prozent aufstockt. Zurzeit beträgt der Bundesbeitrag 7,5 Prozent der Bruttokosten der Grundversicherung. Den Rest der Verbilligungen übernehmen die Kantone. Damit am Schluss auch wirklich etwas in den Taschen der unterstützungswürdigen Personen ankommt, soll der Bundesbeitrag nur für jene Kantone erhöht werden, die ihre Beiträge an die Prämienverbilligungen stabil halten.
Der Bundesrat allerdings steht den neuen Hilfen kritisch gegenüber. So sagte Finanzminister Ueli Maurer, dessen Departement neben jenem von Innenminister Alain Berset am stärksten betroffen wäre, am Mittwoch im Rat: «Die Rechtsgrundlage fehlt, das Geld fehlt, Handlungsbedarf ist nicht gegeben.»
Die von Maurer aufgebrachte Frage nach der Rechtsgrundlage ist tatsächlich ein Knackpunkt: So hätten die diskutierten Massnahmen zum Teil unabsehbare Folgen. Zum Beispiel beziehen sich viele Parameter im AHV-System auf die minimal ausbezahlte Rente. Im ganzen System müssten entsprechend zahlreiche Stellschrauben «am offenen Herz» anzogen werden, sollte die Mechanik für Rentenerhöhungen geändert werden. Hinter vorgehaltener Hand heisst es von Behördenseite, man befürchte ein ziemliches Chaos.
Vor allem aber scheint niemandem wirklich klar zu sein, welchen rechtlichen Weg der Bundesrat beschreiten könnte, damit die Beschlüsse wie gewünscht Anfang 2023 in Kraft treten können. Denkbar scheinen im Moment zwei Optionen: Zum einen das Mittel einer dringlichen Gesetzesänderung, die das Parlament im Dezember durchpauken könnte. Oder eine bundesrätliche Verordnung gestützt auf Notrecht. Dass für eine fristgerechte Umsetzung auch noch die Kantone ihre Gesetzgebung anpassen müssten, verkompliziert das Ganze zusätzlich.
Milliardenkosten für den Bund
«Das Notrecht ist nicht für solche Situationen geschaffen worden», sagte Maurer im Rat. Er verwies darauf, dass die Teuerung im historischen Vergleich tatsächlich nicht besonders hoch liegt, wenn auch noch immer oberhalb des von der Nationalbank gesteckten Ziels von maximal 2 Prozent. «Wenn wir uns jetzt auch, etwas aufgeschreckt, mit dem Ausland vergleichen, dann stellen wir doch fest, dass die Teuerung im Euroraum drei- bis sechsmal höher ist als in der Schweiz», sagte Maurer. Zudem sei der Bund gar nicht für solche Absicherungsmassnahmen zuständig, so der Finanzminister, das sei Aufgabe der Kantone.
Die Anpassung der Renten an die Teuerung würde laut dem Bundesamt für Sozialversicherungen 200 bis 400 Millionen Franken kosten, das stärkere Engagement des Bundes bei der Prämienverbilligung 1 Milliarde. Die Beschlüsse vom Mittwochmorgen geben also jenen Kritikern Auftrieb, die monieren, dass das Parlament das Geld seit Beginn der Pandemie mit beiden Händen ausgebe.
SVP-Anträge chancenlos
So kritisiert sonst die SVP die Ausgabenwut, angesichts des Problems der sinkenden Kaufkraft reichten nun allerdings auch ihre Vertreter gleich fünf Vorstösse zur Abfederung der Teuerung ein. Zum Beispiel sollten die Krankenkassenprämien bei den Steuern voll abgezogen werden können oder sollte die Mineralölsteuer aufgehoben werden. Solche Massnahmen sind aber wenig gezielt und funktionieren eher nach dem Giesskannenprinzip vor – und blieben ohne Chance.
Fraglich ist nun, ob der Ständerat die angenommenen Motionen ebenfalls gutheisst. Hierfür wird das Verhalten der Mitte-Vertreter entscheidend sein. Im Nationalrat hatte die Mitte-Fraktion gemeinsam mit den Linken dem Hilfspaket zu einer Mehrheit verholfen. Erste Reaktionen von Mitte-Ständeräten lassen keinen Schluss zu, in welche Richtung es gehen könnte. Der Finanzminister muss also noch Überzeugungsarbeit leisten, will er neue Lasten für seinen Bundeshaushalt verhindern.
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