Ukrainische Flüchtlinge an BerufswahlschuleMit Händen, Füssen und Englisch
An der Berufswahlschule in Oberrieden lernen ukrainische Jugendliche und deren Mütter Deutsch und erhalten ein Stück Normalität zurück.
Seit etwas mehr als einer Woche hat Lehrer Josef Brander an der Berufswahlschule des Bezirks Horgen (BWS) in Oberrieden eine neue Integrationsklasse. Es ist eine besondere Klasse, bei der er nie genau weiss, wie viele Schülerinnen und Schüler ihn an einem Tag erwarten. An diesem Vormittag Anfang April sind es sieben Personen: Natalia, ihr Sohn Jaroslav, Yuriy, seine Mutter Halyna und Cousine Snizhana, Daniel und Sofia. Seit wenigen Wochen sind sie in der Schweiz und wohnen jetzt im Bezirk Horgen. Sie sind hier, weil sie vor dem Krieg in der Ukraine geflohen sind.
In der Klasse von Josef Brander lernen sie jetzt Deutsch und werden in die Eigenheiten der Schweiz eingeführt. «Neben dem Spracherwerb geht es primär darum, den Jugendlichen eine Tagesstruktur zu geben. Da sie nicht mehr im Primarschulalter und gleichzeitig noch nicht berufstätig sind, fallen sie durch das bestehende Raster», sagt BWS-Rektor Peter Wehrli. Die Gemeinden des Bezirks Horgen hätten deshalb bei der BWS angefragt, ob man ein gebündeltes Integrationsangebot für ukrainische Jugendliche ins Leben rufen könnte.
Für die 41-jährige Natalia und den 16-jährigen Jaroslav ist es der zweite Unterrichtsmorgen, für die 20-jährige Snizhana der erste. Yuriy, Halyna und Sofia sind bereits seit der vergangenen Woche dabei. Natalia und die 50-jährige Halyna, die beiden Mütter in der Gruppe, dürfen mitmachen, solange der Kurs noch nicht voll ausgebucht ist. Die Atmosphäre ist locker, Lehrer und Schüler sitzen im Kreis, zwischendurch wird auch mal herzhaft gelacht. Geübt werden die Bezeichnungen der Zahlen. Wie heissen die ungeraden, wie die geraden Zahlen? Es geht reihum im Kreis, nur die geraden Zahlen sollen aufgesagt werden.
Neue Sprache, neue Schrift
Noch muss immer wieder auf Englisch zurückgegriffen werden, welches vor allem Natalia und Snizhana beherrschen. Natalia war in ihrer Heimatstadt Kiew Englischlehrerin für Kindergärtler, Snizhana ist Studentin. Auch Übersetzungshilfen auf dem Smartphone werden rege genutzt, manchmal geht die Verständigung aber auch klassisch mit Händen und Füssen.
Erste Versuche in der ihnen unbekannten Sprache und Schrift sind in Form von Steckbriefen mit Namen, Alter, Herkunft und Hobbys an der Wand zu sehen. Auf fast jedem der Steckbriefe prangt eine Landesflagge oder eine Zeichnung der Ukraine. «Home», Heimat, hat Sofia auf ihre Zeichnung geschrieben und spricht ihren Mitschülerinnen und -schülern aus dem Herzen.
Zurück in die Heimat
Für die fünf Jugendlichen und ihre Mütter ist klar, sie wollen wieder in ihre Heimat zurück – im Wissen, dass nicht klar ist, ob und wann das möglich sein wird. Bis es so weit ist, wollen sie sich in der Schweiz integrieren, die Sprache lernen und wenn möglich eine Ausbildung machen oder Arbeit finden.
«Sie lernen sehr schnell», sagt Brander. Man merke, dass das Bildungsniveau in der Ukraine hoch sei. «Es ist ganz klar ein Unterschied zu Flüchtlingen, die aus bildungsarmen Ländern kommen. Sie wissen, wie man lernt.»
So haben der 15-jährige Yuriy und die 16-jährige Sofia aus Lwiw auch in der Schweiz noch ukrainischen Fernunterricht. Sie fehlen deshalb am Montag und am Freitag in Branders Deutschstunden. «Es ist ihnen sehr wichtig, am Unterricht von zu Hause teilzunehmen», sagt Brander. Yuriy, der konzentriert den langsamen Worten des Lehrers gelauscht hat, nickt eifrig, nachdem Brander den Satz auf Englisch wiederholt hat.
Den Kontakt nicht verlieren
In Kontakt mit den Freunden zu bleiben, sei sehr wichtig, pflichtet Natalia bei. Auch sie würde mit ihren Kindergärtlern gern Fernunterricht machen, doch dafür seien die Kinder noch zu klein. «Ich freue mich deshalb immer, wenn ich von ihren Eltern höre und weiss, dass sie in Sicherheit sind.»
Natalia und ihr Sohn sind gezielt in die Schweiz geflohen, weil Natalia einen Freund hat, der in Thalwil lebt. Dort sind die beiden jetzt auch untergekommen. Viele ihrer Freunde und Bekannten seien inzwischen über halb Europa verteilt. Die Familie ihres Bruders ist in Polen.
Doch nicht alle haben das Land verlassen. Natalias Bruder, zum Beispiel, ist in Kiew geblieben, um die ukrainische Armee zu unterstützen. «Ich habe auch Freunde, die in Dörfern leben, welche von der russischen Armee eingekreist sind. Sie konnten nicht fliehen.» Auch ihre Eltern seien in der Ukraine geblieben. «Sie wohnen in einem kleinen Dorf nahe der russischen Grenze.» Bisher sei das Dorf vom Kriegsgeschehen verschont geblieben. «Es ist wohl zu klein, um für die Russen interessant zu sein.» Trotzdem, wenn sie ihre Eltern telefonisch mal nicht erreiche, mache sie sich grosse Sorgen.
Die Krux mit dem Plural
Nach den Zahlen sind Pluralformen an der Reihe. Josef Brander hat dafür Zettel vorbereitet mit Einzahlformen auf einer, der Mehrzahl auf der anderen Seite. Was für Deutschversierte selbstverständlich ist, sorgt bei Josef Branders Schülerinnen und Schülern immer wieder für Stirnrunzeln. Milch ist in beiden Formen gleich, die Torte bekommt im Plural ein n angehängt, der Apfel hingegen nur zwei Ä-Pünktchen. «Nein, es ist nicht logisch, das müsst ihr einfach lernen», resümiert Josef Brander.
Die Zeit vergeht im Flug. Es wirkt fast, als würde sich das Grüppchen schon lange kennen. Die Herkunft und das gemeinsame Fluchtschicksal verbinden sie.
Sobald es mit dem Deutsch besser klappt, können die ukrainischen Jugendlichen für einzelne Fächer bei regulären Klassen an der BWS mitmachen, beispielsweise in den Sportstunden. «Yuriy ist zudem extrem stark in Mathematik», sagt Brander. Der Junge könne deshalb in einigen Wochen zum Matheunterricht in einer anderen Klasse. «Uns ist wichtig, dass sie in unserem Schulbetrieb integriert werden und Freunde finden. Das hilft dann auch bei der Sprache.»
Wenn die Jugendlichen im nächsten Schuljahr noch in der Schweiz sind, sei auch eine Lehre denkbar, sagt Rektor Peter Wehrli. Doch das ist derzeit Zukunftsmusik. «Wir nehmen einen Tag nach dem anderen.»
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