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Minderjährigenheirat in der Schweiz
Als die Eltern vom Freund erfahren, verheiraten sie die 17-Jährige mit einem Fremden

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Hanna hat einen Freund. Deshalb soll sie heiraten. Aber nicht ihren Freund, sondern einen Mann, den sie am Morgen der Trauung im Wohnzimmer ihrer Eltern kennen lernt. Im selben Raum findet ein paar Stunden später die Nikah statt, die islamische Trauung. Ein Imam fragt Hanna, ob sie der Heirat zustimme. Die 17-Jährige sagt Ja.

Hanna, die in Wirklichkeit anders heisst, ist Schweizerin. Ihre Eltern wanderten vor ihrer Geburt in die Schweiz ein. Das Mädchen wächst im Kanton Zürich auf, macht eine Lehre im Gesundheitswesen. Sie ist nicht religiös. Auch ihre Eltern sind es nicht. Der Fachstelle Zwangsheirat erzählt Hanna später, dass nicht einmal ihre Grossmutter ein Kopftuch trage. Das überrascht Anu Sivaganesan nicht. Die Juristin und Präsidentin der Fachstelle sagt: «Sobald es um Sexualität geht, sind viele Familien plötzlich religiös.» Hanna hat Sivaganesan erlaubt, ihre Geschichte dieser Redaktion anonymisiert zu erzählen.

Im Jahr 2022 registrierte die Fachstelle Zwangsheirat schweizweit 344 Zwangsheiraten, die Zahlen für 2023 werden Ende März vorliegen. Bei 136 dieser Fälle handelte es sich um Minderjährigenheiraten. Dazu gehören religiöse Trauungen, wie die von Hanna, und auch Fälle, in denen die Minderjährigen im Ausland verheiratet wurden und zugestimmt haben. In der Schweiz hat die Anzahl der gemeldeten Fälle seit 2015 zugenommen. Anu Sivaganesan sagt, betroffen seien meist Kinder aus konservativen muslimischen, orthodox-christlichen oder hinduistischen Familien.

Wenn es um Sexualität gehe, würden auch nicht religiöse Familien plötzlich religiös, sagt Anu Sivaganesan. Die Juristin leitet die Zürcher Fachstelle Zwangsheirat.

Seit 2013 sind Minderjährigenheiraten auch für in der Schweiz lebende ausländische Personen verboten. Fachorganisationen bemängelten das Gesetz dazu jedoch bereits bei seiner Einführung. Diese Woche wird der Ständerat über eine Gesetzesänderung beraten, bei der es darum geht, wann Ehen von Minderjährigen in der Schweiz gültig sind und wann nicht. Derzeit werden Minderjährigenheiraten hierzulande automatisch gültig, sofern sie im Ausland geschlossen wurden und die Ehepartner bereits erwachsen sind, wenn sie die Ehe den Behörden melden. Im Fachjargon sagt man dazu, die Ehe wurde «geheilt».

Markus Stoll ist Abteilungsleiter für das Zivilstandswesen im Kanton Zürich. Er schildert ein Beispiel aus seinem Berufsalltag: «Wenn ein Kind mit 14 Jahren in Afghanistan verheiratet wird, später in die Schweiz kommt und uns die Ehe mit 18 Jahren gemeldet wird, dann gilt diese Ehe automatisch als geheilt. Und ist fortan rechtsgültig.» Die Problematik: Viele würden das Gesetz so bewusst umgehen.

Aber selbst eine Meldung im jugendlichen Alter kann in der Schweiz zu einer rechtsgültigen Ehe führen. Die noch minderjährigen Ehepartner müssen dann vor Gericht aussagen, ob sie ihre Ehe aufrechterhalten wollen. Willigen sie ein, entscheidet sich das Gericht oft für die Anerkennung der Ehe – trotz Minderjährigkeit. Organisationen, die mit Betroffenen zu tun haben, kritisieren diese sogenannte «Interessenabwägung» besonders stark. Anu Sivaganesan von der Fachstelle Zwangsheirat sagt dazu: «Selbst Erwachsene, die zwangsverheiratet werden, haben Mühe, sich vor Gericht gegen ihre Familien zu stellen und zu sagen, dass sie die Heirat nicht aufrechterhalten wollen.» Bei Kindern sei dieses Vorgehen fatal.

Vorbereitung auf die Hochzeitsnacht

Hanna wurde zwar nicht vom Gericht, sondern von einem Imam gefragt, ob sie der Heirat zustimme. Doch ihr Fall zeigt, in welch schwieriger Situation sich Betroffene oft befinden.

Drei Wochen vor der Trauung im Wohnzimmer erwischt die ältere Schwester Hanna beim Telefonieren mit ihrem Freund. Er gehört einem anderen Kulturkreis an. Die Schwester verpetzt Hanna. Daraufhin nehmen die Eltern ihr das Handy weg und sperren sie drei Tage in ein Zimmer. Danach offenbaren sie ihr, dass sie einen Mann heiraten soll, der im Geschäft des Onkels arbeitet und aus demselben Land stammt wie Hannas Familie.

Die Eltern versichern ihrer Tochter, dass sie bis nach dem Lehrabschluss nicht mit dem 25-Jährigen zusammenwohnen müsse. Hanna weiss, dass eine solche Ehe in der Schweiz nicht rechtskräftig ist. Sie denkt, wenn sie Ja sage, lasse die Familie sie in Ruhe. Und sie fasst einen Plan: Sie will nach dem Lehrabschluss, wenn sie volljährig und finanziell unabhängig ist, mit ihrem Freund abhauen.

Doch direkt nach der Trauung nimmt eine Tante Hanna beiseite und erklärt ihr, wie sie sich am Abend im Ehebett verhalten solle. Die Tante bereitet ihre Nichte auf den Geschlechtsverkehr vor. Sie sagt, dass es schmerzen werde, aber nur am Anfang. Ihrem Freund erzählt sie vorerst nichts davon – sie schämt sich. Erst als er blaue Flecken an ihrem Arm entdeckt, wendet sich das Paar an die Fachstelle Zwangsheirat. Dort erzählt Hanna später, dass sie zum Geschlechtsverkehr gezwungen worden sei.

Neuer Gesetzesentwurf

Nun ist der Ständerat auf eine Vorlage des Bundesrates zu einer Gesetzesänderung bezüglich Minderjährigenheiraten eingetreten. Grundsätzlich geht es um drei Änderungen. Erstens soll eine Ehe erst automatisch «geheilt» werden können, wenn die beiden Ehepartner 25 Jahre alt werden – und nicht schon mit 18. So sollen die Betroffenen, aber auch die Behörden genug Zeit haben, um allenfalls gegen eine Ehe, die im Minderjährigenalter geschlossen wurde, vorzugehen.

Zweitens schlägt der Bundesrat vor, dass Minderjährigenehen, die vor dem 16. Geburtstag gemeldet werden, grundsätzlich nicht anerkannt werden. Und drittens sollen alle Minderjährigenehen, die im Ausland geschlossen wurden und bei denen ein Partner zum Zeitpunkt der Heirat in der Schweiz gelebt hat, nicht anerkannt werden. Damit sollen sogenannte «Sommerferienheiraten» verhindert werden, bei denen Kinder, die in der Schweiz leben, während der Ferien im Ausland verheiratet werden.

Ausnahmen weiterhin gestattet

Was hingegen nicht geplant ist: dass Ehen von Minderjährigen gar nicht mehr anerkannt werden können. Eine Interessenabwägung ist auch im neuen Gesetzesentwurf vorgesehen. Konkret wäre es weiterhin möglich, dass 16-Jährige in der Schweiz leben und bereits rechtmässig verheiratet sind. Und zwar dann, wenn die Ehe erstens im Ausland geschlossen wurde, bevor einer der Partner in die Schweiz gezogen ist; wenn sie zweitens erst gemeldet wird, wenn beide über 16 Jahre alt sind; und wenn die Minderjährigen drittens vor Gericht aussagen, dass sie verheiratet bleiben wollen.

In der Vernehmlassung sprach sich eine knappe Mehrheit der Organisationen, Kantone und Parteien für die Beibehaltung der Interessenabwägung aus. Auch die Rechtskommission des Ständerats kam zum Schluss, dass die Ausnahmeregelung beibehalten werden soll. Daniel Jositsch ist SP-Ständerat und Präsident der Kommission. Er sagt: «Mit einer starren Lösung wird man den verschiedenen Konstellationen von Minderjährigenheiraten nicht gerecht.» Wenn jemand in einem Rechtsstaat rechtmässig heirate, müsse die Schweiz das akzeptieren – auch wenn die Eheleute noch nicht 18 Jahre alt seien.

Ein Beispiel dafür ist Schottland. Heiraten ist dort ab 16 Jahren möglich. Die Interessenabwägung ermöglicht es einer 17-jährigen Schottin, die mit ihrem Ehemann in die Schweiz einwandert, die Ehe hier anerkennen zu lassen.

Nur 2 von 226 untersuchten Ehen für ungültig erklärt

Die Fachstelle Zwangsheirat hingegen fokussiert auf die Signalwirkung des Gesetzes. «Wir müssen unsere internationale Verantwortung wahrnehmen und hier ein klares Signal gegen Kinderehen senden», sagt Anu Sivaganesan. Es gebe viele asiatische und afrikanische Länder, die momentan viel gegen Minderjährigenehen unternehmen würden. Zudem seien beispielsweise in den Niederlanden Heiraten unter 18 Jahren seit 2015 nicht mehr gültig, das Land mache damit gute Erfahrungen. Die Schweiz müsse sich an diesen internationalen Bemühungen beteiligen.

Ähnlich sieht es die Ombudsstelle Kinderrechte Schweiz. Sie hatte sich zuerst dafür ausgesprochen, die Interessenabwägung durch das Gericht beizubehalten, sieht es nun aber anders. Juristin Corina Ringli, die sich des Dossiers angenommen hat, sagt: «Die Erfahrung hat gezeigt, dass es aufgrund des Drucks der Familien kaum zu einer freien Meinungsäusserung vor Gericht kommen kann.» Das würden auch die Zahlen zeigen. Zwischen 2013 und 2017 wurden 226 Minderjährigenheiraten im Auftrag des Bundes untersucht, 12 gelangten vor Gericht, nur 2 davon wurden für ungültig erklärt.

In Hannas Fall spielt die Interessenabwägung keine Rolle. Denn sie wurde nicht zivil, sondern religiös verheiratet. Und ihr Fall gelangte gar nicht erst vor ein Gericht. Laut der Fachstelle Zwangsheirat steigen die Zahlen solcher Trauungen. Für diese Betroffenen ändert sich aber mit der geplanten Gesetzesrevision nicht viel.

Bereits nach bestehendem Gesetz ist eine religiöse Trauung vor der standesamtlichen Heirat in der Schweiz illegal. Früher wurde ein Verstoss dagegen mit einer Ordnungsbusse bestraft. Die Konferenz der kantonalen Aufsichtsbehörden im Zivilstandsdienst (KAZ) setzt sich für eine Wiedereinführung ein. Eine Ordnungsbusse ist im neuen Gesetzesentwurf aber nicht drin. Auch die Fachstelle Zwangsheirat unterstützt dies. Noch wichtiger sei es aber, die Bevölkerung zu sensibilisieren.

Allerdings schlägt die Rechtskommission des Ständerates vor, auch die religiöse Ehe explizit im Strafgesetzbuch zu verankern. Wird jemand zu einer religiösen Trauung gezwungen, würde dies so künftig als Verbrechen gewertet. Jon Peider Arquint, Präsident der KAZ, sieht darin einen guten Hebel gegen religiöse Trauungen, insbesondere solche von Minderjährigen. Auch Anu Sivaganesan begrüsst die Änderung, sie gibt jedoch zu bedenken, dass der entsprechende Artikel lediglich Zwangsheiraten betrifft. In Fällen wie jenem von Hanna müsse man vor Gericht ein «erzwungenes Ja» beweisen.

Die Gesetzesänderungen werden nach dem Ständerat auch noch im Nationalrat behandelt.

Hanna ist heute 18 Jahre alt. Sie hat es geschafft, unterzutauchen, und lebt heute in einem anderen Kanton. Sie musste beinahe ihren ganzen Freundeskreis aufgeben, um sicherzugehen, dass ihre Familie nicht erfährt, wo sie nun wohnt. Nur zu einer Freundin hat sie noch Kontakt – und zu ihrem Freund. Mittlerweile ist das Paar schon über zwei Jahre zusammen. «Ihr Freund ist für sie die wichtigere Stütze als wir», sagt Anu Sivaganesan von der Fachstelle Zwangsheirat. Sie sagt auch, manchmal entspanne sich die Situation mit der Familie, wenn die Betroffenen ihren Freund oder ihre Freundin irgendwann heiraten würden. Denn aus Sicht der Angehörigen seien sie dann «wenigstens verheiratet». Doch Hanna will nicht heiraten. Sie will die Berufsmatura machen. Hanna findet, zum Heiraten sei sie mit 18 Jahren noch zu jung.

* Der Text wurde nach der Behandlung des Gesetzesentwurfs im Ständerat am 12.3.2024 entsprechend angepasst.