Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen
Meinung

Glosse zur Wahlübertragung
Rot für Ritter, Gelb für Baume-Schneider: ein Wimmelbild am Wahlmittwoch

Abgeordnete im Schweizer Parlament sitzen und diskutieren während einer Sitzung. Einige lächeln und tauschen sich aus.
Jetzt abonnieren und von der Vorlesefunktion profitieren.
BotTalk

Die Flasche will nicht so recht. Er schraubt und schraubt, vielleicht sind es die neuen Deckel, die so mühsam an der Flasche hängen bleiben – bestimmt eine EU-Verordnung! Irgendwann klappt es dann doch bei Andri Silberschmidt, der Deckel ist drauf, der FDP-Nationalrat am Ziel. Wer das mitbekommen hat? Nur wir.

Weil wir schauen die Bundesratswahl im Livestream auf dem Youtube-Kanal des Parlaments. Während das interessierte Politpublikum auf SRF eine wohlorchestrierte Wahlsendung zu sehen bekommt, plätschert hier der Vormittag im Bundeshaus «unplugged» zu uns an den Bildschirm: das Schweizer Parlament ohne Netz und doppelten Boden.

Hier wird Inhalt angezeigt, der zusätzliche Cookies setzt.

An dieser Stelle finden Sie einen ergänzenden externen Inhalt. Falls Sie damit einverstanden sind, dass Cookies von externen Anbietern gesetzt und dadurch personenbezogene Daten an externe Anbieter übermittelt werden, können Sie alle Cookies zulassen und externe Inhalte direkt anzeigen.

Vorhang auf, erster Wahlgang. Natürlich pfistert es gewaltig an diesem Tag im Nationalratssaal. Gerhard ist zu sehen, vielleicht ist er ganz froh, geht es nicht um ihn, als Mitte-Präsident hat er bald ausgedient, als Bundesrat abgesagt. Im Zuschauerrang recken sich die Hälse vorbei an den sperrigen Säulen, man sieht wenig, will aber alles im Blick haben. Martin Pfisters Familie sitzt dort, Gattin Cacilda Giacometti Pfister, deren Tochter Fabiola Weibel-Giacometti, im Arm Sohn Joah.

Popeln, grübeln, kratzen: Ein herrliches Wimmelbild

Unten in der Versammlung: angeregte Unterhaltungen. Der Stream schwenkt durch die Bundesversammlung, zeigt unsere Gesetzesberater, wie sie sind. Es ist ein herrliches Wimmelbild, ein argloses «Guernica», den berühmten «Wo ist Walter?»-Walter müssen wir gar nicht suchen, stattdessen finden uns Miniaturen, die für sich sprechen.

Hier ist der Politiker noch Mensch, hier grübelt, gähnt und popelt er, fletscht die Zähne, kratzt sich am Bauch, zupft am Hosenbund. Eine ungeschönte Symphonie, ohne Kommentar, orchestriert in einer Nüchternheit, die den Regisseur jeder skandinavischen Krimiserie vor Neid erblassen liesse.

Innenansicht eines Parlaments mit Abgeordneten, die diskutieren und Papiere auf Schreibtischen. Schweizer Flaggen im Hintergrund.

Sesselrücken, es geht los. Auch für sie gibt es noch einen Schluck aus der Flasche – Edelstahl, nicht PET –, dann spricht Maja Riniker, Präsidentin des Nationalrats und für uns eine Art Zeremonienmeisterin in dieser ansonsten so stummen Übertragung, ins Mikrofon: «Ich erkläre die Sitzung der Vereinigten Bundesversammlung für eröffnet.»

Warum fotografieren einige den Stimmzettel?

Dann: Auftritt Bundesrat. Alle Augen auf Viola Amherd, gewiss, aber andere sind ja auch noch da: Karin Keller-Sutter grüsst am eifrigsten, Ignazio Cassis guckt etwas verträumt, Guy Parmelin hat Schmerzen. «Viola, t’as la place?», fragt er. Was zum Mikrofon dringt, kontrastiert in seiner Belanglosigkeit wunderbar mit dem Dargebotenen.

Amherd spricht, aber die Kamera schwenkt auf links, zur SP-Doppelspitze, Cédric Wermuth und Mattea Meyer, er in Schwarz, sie in Weiss. Andacht vor dem bürgerlichen Abgang. Dann das Tränchen in Amherds Augenwinkel, ein erstes Mal Blumen, wieder werden Hände geschüttelt, so viele, dass die Hand von Bundesrat Rösti einmal etwas gar schlaff in der Luft hängt.

Politiker in einem Sitzungssaal in lockerer Gesprächssituation, einige sitzen, andere stehen.

Erster Wahlgang. Es gibt ein paar Wortmeldungen, die Stimme von Mitte-Fraktionspräsident Philipp Matthias Bregy dröhnt durch den Saal, etwas zu kräftig für unseren Geschmack, weil wir minutenlang bloss mit der dumpfen Geräuschkulisse aus dem Saal berieselt wurden.

Überhaupt, was für uns zählt, ist das Dazwischen. Während das Publikum im linearen Fernsehen mit lästigen Hintergründen, mit Interviews, Analysen und Statistiken versorgt wird, kommen wir abermals in den Genuss des grossen Ganzen. Wie schreiben die Leute, mit links oder rechts? Schirmen sie mit der Hand ab, oder reden sie gar dazu? Und, verblüffend, einige fotografieren ihren Stimmzettel tatsächlich mit dem Handy. Darf man das? Und dann ab damit auf Instagram – #justvoted, #federalvibes? In der Mitte faltet Nationalrat Lorenz Hess den orangenen Zettel und reckt ihn kurz in die Höhe, wie ein Schiedsrichter seine Karte. Rot für Ritter? Noch ist nichts gewiss.

Schnitt ins Zimmer der Stimmenzähler. Dort werden die Zettel auf den Tisch «gegossen», notabene auf Kommando, «Deckel, Mitte, eins, zwei, drei». Könnte auch ein Slogan von Pfisters Partei sein. Aber was kümmert uns das. Drüben im grossen Saal gibt es wieder Figurentheater.

Thomas Aeschi hat einen Witz erzählt bekommen, so denken wir uns das, weil der SVP-Nationalrat erst ziemlich lang lauscht und dann ziemlich laut lacht. Daniela Schneeberger von der FDP bestellt beim Kollegen ein «El Tony Mate», wenig später ist es da. Alfred Heer (SVP) ist oldschool und trägt Kopfhörer mit Kabel. Präsidentin Riniker frischt den Lippenstift auf. Eine unschlüssige Fotografin setzt ihre Kamera auf Jon Pult (SP) an, als der seine Hand aber partout nicht aus dem Gesicht nehmen will, lässt sie von ihm ab.

Eine Person im Anzug sitzt an einem Schreibtisch und blickt auf ein Smartphone, umgeben von anderen im Hintergrund.

Und dann ist es so weit. 245 Stühle werden noch einmal etwas näher ans Pult gerückt. «Gewählt ist, mit 134 Stimmen», sagt Riniker, und jetzt, in diesem dann doch ziemlich historischen Moment, haben wir den Kommentator im Kopf, «hundert-vier-und-dreissig Stimmen», artikuliert Hüppi, als wäre es Bruno Kernens Bestzeit 1997 in Sestriere, «es hatte sich schon in der ersten Halbzeit abgezeichnet», urteilt für uns Bernhard Thurnheer, und irgendwo im Hinterkopf geistert Sascha Ruefer herum und schreit «Toooooor für die Mitte!».

Endlich einer, der grösser ist als Parmelin. Sagt Parmelin

Letztes Highlight: die Begrüssung der neuen Gspänli. Drüben auf SRF denken Verlierer und Gewinner übers Verlieren und Gewinnen nach, wir hingegen bekommen live zu sehen, wie der neu gewählte Bundesrat Pfister auf seine künftigen Arbeitskollegen trifft – auf manche offensichtlich zum ersten Mal. «Bienvenue», sagt Parmelin, endlich sei da einer, der grösser sei als er. «Alls Güeta», seufzt Amherd und bedenkt ihn mit drei Küsschen. «Herr Kollege», sagt Rösti, es freue ihn sehr. Fröhlich gibt sich Baume-Schneider, die eben noch Rot trug, jetzt aber in Gelb gewandet ist.

Schnitt in den Saal, er ist jetzt fast leer. In der Totale sehen wir Charles Girons «Wiege der Eidgenossenschaft», der Vierwaldstättersee über dem Parlament. Dazu kaum vernehmbare Stimmen, «Attend», «Kommst du auch?» oder «Häsch en gseh?». Die Bundesratswahl auf Youtube: Das Kaminfeuer unter den Übertragungen.