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Identitätspolitik am Zürcher Schauspielhaus
Mann sollte Frau spielen – «Das geht einfach nicht»

Dramatiker Necati Öziri bestimmte, welche Hautfarbe die Zürcher Schauspieler in seinem Stück haben müssen: Maryam Abu Khaled in «Die Verlobung in St. Domingo: Ein Widerspruch».
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Jüngst führte «Music», ein Film der australischen Sängerin und Neu-Filmemacherin Sia, zu hitziger Kritik im Netz. Denn die Figur des autistischen Mädchens namens Music wird dort nicht von einer Autistin gespielt; und auch der Umgang mit der Autistin im Film sei problematisch.

Sia hat sich schnell entschuldigt, obwohl es Autismus-Organisationen gab, die sie verteidigten. 1989 wurde Dustin Hoffmans Performance als Autist in «Rain Man» noch mit einem Oscar ausgezeichnet.

Dass die Schauspielerin Maddie Ziegler in Sias Film «Music» keine Autistin war wie ihre Figur, löste eine Kontroverse aus.

Keine Frage: Identitätspolitik ist ein hochsensibles Thema und längst im Schauspiel angekommen. Denn dieses Metier verkörpert nolens volens die Stimmenaneignung.

Entsprechend erklärte im Januar Russell T Davies, der Schöpfer von «It’s a Sin», einer Miniserie über die Aidskrise: «Man würde ja keinen Gesunden casten und in einen Rollstuhl setzen; man würde auch niemanden schwarz anmalen» – und genauso wenig würde er Heterosexuelle als Schwule besetzen. Rasch kam die Frage auf: Und umgekehrt?

Wenn Dramatiker den Cast festlegen

Auf der Bühne wird die spielerische Aneignung einer Stimme durch die atmende Präsenz des Akteurs konkret – selbst dann, wenn Geschlecht, Alter und Ethnie der Stimme im Stück bewusst nicht festgelegt wurden. Und zeichnet der Text die «Biomarker» einer Figur auf eindeutige Weise, arbeitet die Regie immer wieder gern mit verfremdenden Besetzungen dagegen an; der weibliche Hamlet zählt fast schon zu den Standards. Dass jedoch Blackfacing und jedes ethnische So-tun-als-Ob ausgedient hat, ist klar.

Manchmal geben Dramatiker auch dezidierte Besetzungshinweise. Der Berliner Necati Öziri bestimmte etwa für seine Überschreibung von Kleists «Die Verlobung in St. Domingo», dass «mindestens zur Hälfte schwarze Menschen und Menschen mit Rassismuser­fahrung besetzt werden. Blackfacing ist nicht erlaubt.» Und das Schauspielhaus Zürich hielt sich bei der Uraufführung 2019 auch daran.

Necati Öziris «Die Verlobung in St. Domingo – Ein Widerspruch» am Schauspielhaus Zürich 2019.

Nicht gefolgt ist man in Zürich dem Wunsch der französischen Autorin Yasmina Reza: Ihr Monolog «Anne-Marie die Schönheit» von 2019 – ein Gedankenfluss einer alten Schauspielerin – solle nur von einem Mann gespielt werden. Für die deutsche Erstaufführung dachte Reza an Robert Hunger-Bühler.

Doch wenn ein hochinteressantes Stück schon einmal eine ältere Frau als Protagonistin habe, sollte man diese auch weiblich besetzen, heisst es aus der Zürcher Dramaturgie. Tolle Rollen für Männer jeden Alters gebe es schliesslich genug.

Zudem wollte man sich Rezas Argument, die Überkreuzbesetzung widerspiegle die Universalität der Figur, nicht zu eigen machen. «Dass aus Gründen der Distanz und Allgemeingültigkeit eine Frauenfigur von einem männlichen Schauspieler gespielt werden soll, halten wir nicht für sehr besonnen», formuliert die leitende Dramaturgin Katinka Deecke.

In den «sehr zugewandten und respektvollen Gesprächen» (Deecke) zwischen Autorin, Agentur und Schauspielhaus fand man zwar keinen Konsens. Immerhin: Nach der deutschsprachigen Erstaufführung mit Robert Hunger-Bühler darf das Stück auch mit einer Frau besetzt werden.

Für diese hat das deutsche Theater Freiburg (mit Hunger-Bühler) bereits geprobt. «Die Besetzung der Anne-Marie durch einen Mann ist in gewissem Mass ein ‹Verfremdungseffekt›», erklärt Intendant Peter Carp. «Es geht, so verstehen wir Reza, darum, wie man sich selbst erfindet, und das immer wieder neu.»

«Trotzdem gibt es die Frage nach der Repräsentation von Weiblichkeit auf der Bühne.»

Katinka Deecke, leitende Dramaturgin am Schauspielhaus Zürich

In Zürich wiederum wirft man keinem Theater vor, bei der Besetzung mit einem Mann etwas falsch zu machen, unterstreicht Dramaturgin Deecke. Offenheit sei ja eine Qualität komplexer Texte.

«Trotzdem gibt es die Frage nach der Repräsentation von Weiblichkeit auf der Bühne. Das ist eine politische Frage, und da wollen wir uns eindeutig positionieren. Mir ist klar, dass andere Haltungen möglich sind; einige von ihnen finde ich bedenkenswert. Für uns indes kann ich im Moment nur sagen: Das geht einfach nicht.» Man wolle aber keineswegs missionieren.

Zwei Poet Laureates: Amanda Gorman und Rita Dove. Wie halten es die Schweizer Verlage bei den Übersetzungen mit der identitätspolitischen Korrektheit? Lesen Sie hier.