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Gouverneur-Wahl in Virginia
Schullektüre bringt Bidens Kandidaten ins Straucheln

Er muss für die Demokraten siegen, doch ein alter Streit um Toni Morrisons Roman «Beloved» holt den Kandidaten Terry McAuliffe ein. 
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Die heisse Wahl ums Gouverneursamt in Virginia geht zu Ende, um Mitternacht (MEZ) schliessen die Wahllokale. Nachdem es zu Beginn des Wahlkampfs gut aussah für den demokratischen Kandidaten, wurde der Abstand mit der Zeit geringer – und jetzt wird doch ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Und die Wahl in dem Staat, der an die Hauptstadt Washington grenzt, gilt als wichtiges Stimmungsbarometer.

Daher leistete die Politprominenz in den letzten Wochen vollen Einsatz: Die Ex-Präsidenten Barack Obama und Donald Trump machten ebenso Werbung für ihren jeweiligen Kandidaten – Terry McAuliffe kandidiert für die Demokraten, Glenn Youngkin für die Republikaner – wie der amtierende Präsident Joe Biden. Doch dass die 2019 verstorbene schwarze Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison quasi aus dem Grab heraus eine Rolle spielen würde, damit hatte keiner gerechnet.

Explizite Annäherungen in Zeiten der Sklaverei

Tatsächlich hat ein einzelner Roman von ihr der Debatte einen neuen Dreh gegeben – und ausgerechnet den demokratischen Gouverneurskandidaten Terry McAuliffe in die Bredouille gebracht. Stein des Anstosses ist «Beloved», in der deutschen Fassung «Menschenkind». Der 1988 mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnete, 1998 mit Oprah Winfrey verfilmte Roman spielt nach dem amerikanischen Bürgerkrieg.

Hauptfigur ist Sethe, eine ehemalige Sklavin, die in einem Geisterhaus in Ohio lebt. Mit der Zeit wird deutlich, dass der eigentliche Geist ihre Vergangenheit ist: Sethe brachte einst auf der Flucht vor ihrem Sklavenhalter ihre älteste Tochter, damals ein Kleinkind, eigenhändig um – um sie vor der Sklaverei und vor der sexuellen Gewalt durch weisse Männer zu bewahren, wie sie selbst sie erlebt hat. Im Buch gibts ungeschönte Schilderungen sexueller und anderer Gewalt. Es macht anschaulich, wie das System der Diskriminierung, Ausbeutung und Unterwerfung die Menschen traumatisierte und teils ihrerseits entmenschlichte. Auch – letztlich scheiternde – explizite Annäherungsmomente kommen vor.

Eine Woche vor der heutigen Wahl schaltete der republikanische Kandidat eine Anzeige, die dem Kulturkampf einheizte, der seit ein paar Jahren rund um das Buch tobt – seit eine Mutter aus Virginia dagegen Sturm lief, dass ihr Teenager-Sohn den Klassiker in der Schule lesen musste. 2016 wurde, auf ihre Agitation hin, von der republikanischen Legislative ein Gesetz verabschiedet, das Eltern das Recht verleihen sollte, ihren Kinder die Lektüre sexuell expliziter Literatur zu ersparen.

Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison lacht mit Barack Obama, bevor sie 2012 die «Presidential Medal of Freedom» erhält.

Auf Wunsch der Eltern hätten sich Schülerinnen und Schüler also über den Lehrplan und allfällige Lehrerwünsche hinwegsetzen dürfen. Doch Terry McAuliffe, der damals das Gouverneursamt innehatte, das er nun wieder anstrebt, sprach sein Veto aus. Und er bremste auch weitere Angriffe auf die freie Buchauswahl der Schulen aus.

Vermutlich hätte er nicht gedacht, dass der Streit um einen Roman, vom Zaun gebrochen von einer rechtskonservativen Mutter, ihn Jahre später eventuell seine zweite Amtszeit kosten könnte. Ohnehin hatte die Schule ja längst reagiert; manches «problematische» Buch wurde in vorauseilendem Gehorsam vom Lehrplan gestrichen oder mit Warnungen versehen, so wie es derzeit überall im Land zu beobachten ist. Allerdings hätte das sogenannte «Beloved»-Gesetz Eltern im gesamten Bundesstaat Virginia eine Opt-out-Klausel an die Hand gegeben; ein solches Gesetz gibt es bis jetzt nirgends in den Vereinigten Staaten.

McAuliffe reagierte politisch ungeschickt: Er finde nicht, dass Eltern Schulen dreinreden sollten, was sie den Kindern beibrächten, sagte er.

Youngkin juckt das nicht. Er lässt in seinem Werbespot Mutter Laura Murphy geschockt in die Kamera schauen: Die an ihren Sohn herangetragene Schullektüre sei unvorstellbar explizit gewesen. Nach der Ausstrahlung des Spots reagierte McAuliffe unmissverständlich – und ungeschickt: Er finde nicht, dass Eltern Schulen dabei dreinreden sollten, was sie den Kindern beibrächten, sagte er. Eine Steilvorlage für den politischen Gegner: McAuliffe wolle die Freiheit beschneiden, er wolle Eltern den Mund verbieten, ihnen hinterrücks die elterliche Gewalt abspenstig machen. An dieser Stelle nutzten die Republikaner auch die dieser Tage gern gepflegte Panik über Critical Race Theory an Schulen.

«Freiheit» ist das Schlagwort in den aktuellen Grabenkämpfen in den USA und an den Rändern der scheinbar unüberbrückbaren Spaltung der Gesellschaft. So warnte auch der Demokrat McAuliffe vor Unfreiheit: vor der schleichenden Jagd auf missliebige Bücher – die nicht nur in Virginia für Schlagzeilen sorgt – und vor Youngkins Versuch, schwarzen Autorinnen und Autoren die Plattform zu nehmen und die dunkelsten rassistischen Antriebe der republikanischen Partei zu bedienen.

Aber der Schaden ist angerichtet, und die Bildung schoss als entscheidendes Thema zuletzt überraschend nach oben in den Wählerumfragen Virginias – freilich nicht auf die Weise, wie es die Demokraten sich gewünscht hätten, die sich seit langem um eine bessere Bildungspolitik bemühen. Die tut not, ganz offensichtlich.

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