Kinostück «Napoleon» im FaktencheckWar Napoleon süchtig nach Sex?
Ridley Scotts Monumentalwerk über den genialen Feldherren sorgt für Aufsehen. Wie viel historische Wahrheit steckt in dem Film über den seinerzeit gefürchtetsten Mann Europas?
«Die Geschichte ist eine Lüge, auf die man sich geeinigt hat»: Napoleon Bonaparte hatte offensichtlich keine gute Meinung von der Historikerzunft. Am Donnerstag kommt «Napoleon» in die Deutschschweizer Kinos, das mit Spannung erwartete Filmepos über eine der populärsten Figuren der westlichen Geschichte.
Wie viel historische Wahrheit steckt in dem Monumentalwerk des britischen Regisseurs Ridley Scott? Und wie viel (künstlerische) Lüge? Lesen Sie unseren Faktencheck.
Sah sich Napoleon die Enthauptung von Königin Marie Antoinette an?
«Napoleon» beginnt am 16. Oktober 1793. Wir sind in Paris, Place de la Révolution (heute: Place de la Concorde), es ist Schlag 12, und das Fallbeil der Guillotine trennt der französischen Königin Marie Antoinette den Kopf vom Rumpf. Die Menschen jubeln, tausendfach, die Kamera fährt auf einen jungen Artillerieoffizier, der sehr skeptisch dreinblickt: Napoleon, damals 24 Jahre alt, ein Aufsteiger, ein Ehrgeizling. Und in wenigen Jahren der gefürchtetste Mann Europas.
Ein effektvoller Einstieg für einen Film, zweifellos. Ridley Scott missachtet damit allerdings gleich zu Beginn seines Monumentalwerks über eine der bedeutendsten Figuren der Weltgeschichte historisch verbürgte Fakten: Napoleon war Mitte Oktober 1793 in Italien, er kämpfte als Brigadegeneral der französischen Revolutionstruppen.
War Napoleon ein Erotomane?
Bereits zu Lebzeiten des Mannes, der Europa auf den Kopf stellte, waren seine beiden Ehen und zahlreiche Affären und Eskapaden ein leidenschaftlich diskutiertes Thema. Damalige Zeitungen und Zeitschriften skandalisierten die verbürgten Frauenbeziehungen des französischen Imperators auf ähnlich unverfrorene Weise wie heutige Boulevardmedien – und erfanden Liebesabenteuer hinzu.
In ihrer Ausgabe vom 28. Januar 1807 berichtete etwa die britische «The Times» über eine Liaison Napoleons mit der damals 21-jährigen polnischen Adligen Marie Walewska. Der Artikel bezeichnete die Beziehung, die bis 1814 andauern sollte, als «schändlich» und «anstössig». Hinter dieser Art der Berichterstattung standen nicht nur kommerzielle Interessen, sondern auch die politische Absicht, den Gegenspieler Napoleon als unmoralischen und unwürdigen Herrscher zu diffamieren.
Ridley Scotts «Napoleon» zeigt einen lüsternen und vulgären Kaiser, der seine Kaiserin mit dem Feingefühl eines Presslufthammers am liebsten a tergo nimmt und vor versammelter Dienerschaft unter dem Banketttisch besteigt. Diese Kinobilder sind unbestritten amüsant – allerdings genauso spekulativ, wie es der Klatsch über Napoleons Affären in den Pariser Salons und den Wiener Kaffeehäusern war.
Napoleon schrieb Hunderte Liebesbriefe, die bis heute erhalten sind, an rund dreissig verschiedene Frauen. Oft griff er nach einer geschlagenen Schlacht zur Feder, egal ob in Ägypten, Polen oder Russland, um eine Frau zu umwerben. In einem galanten Schreiben an seine erste Frau, an Joséphine de Beauharnais, klang das beispielsweise so: «Einen Kuss aufs Herz, und dann einen weiter unten, viel weiter unten!»
Schoss Napoleon mit Kanonen auf die ägyptischen Pyramiden?
Regisseur Ridley Scott ist ein Mann der visuellen Kracher. In «Napoleon» lässt er die französische Artillerie im Kampf gegen die Mamluken die Pyramiden von Gizeh, also eines der sieben Weltwunder, beschiessen. Das sieht spektakulär aus, ist aber Unsinn. Die Schlacht vom 21. Juli 1798 fand mehrere Kilometer von den Pyramiden entfernt statt, zudem war Napoleon ein Bewunderer dieser antiken Monumentalwerke. Dennoch behaupteten schon Napoleons Zeitgenossen, die Franzosen hätten die Pyramiden mit Kanonenkugeln malträtiert, und der britische Journalist William Mudford setzte diese Fake News erstmals 1803 in einem Buch in die Welt.
Weigerten sich die Soldaten wirklich, auf den zurückgekehrten Napoleon zu schiessen?
Es ist eine der dramatischsten Szenen des Filmes, aber ist sie historisch korrekt? Nach Napoleons Flucht von Elba am 26. Februar 1815 marschierte er mit einer kleinen Truppe nach Frankreich. Die französische Regierung unter Ludwig XVIII. entsandte eine Armee, um Napoleon aufzuhalten. Am 7. März 1815 kommt es bei Grenoble zu einer Begegnung zwischen Napoleon und dieser Truppe. Der zurückgekehrte Feldherr entblösst seine Brust und ruft den Soldaten zu: «Hier bin ich. Tötet euren Kaiser, wenn ihr wollt.»
Ridley Scotts «Napoleon» zeigt, wie die Soldaten des 5. Regiments, die Napoleon stoppen sollen, den Schiessbefehl verweigern. Stattdessen rufen sie «Vive L’Empereur!» und schliessen sich dem nach wie vor charismatischen Führer an. Wie es der Film zeigt, so war es auch in der Realität, das Meutern der Soldaten ist in historischen Quellen gut belegt. Es war ein entscheidender Moment, der Napoleons Rückkehr an die Macht überhaupt erst möglich machte.
Kämpfte Napoleon in den Schlachten an vorderster Front mit?
In «Napoleon» kämpft Bonaparte in den Schlachten von Borodino (1812) und Waterloo (1815) an vorderster Front mit: Er galoppiert auf seinem Schimmel an der Spitze der französischen Kavallerie gegen die gegnerischen Stellungen und streckt mit dem Schwert die Feinde nieder. Das sieht im Kino sehr schneidig aus, war in der Realität aber ganz anders.
Bei Borodino, einer der blutigsten Schlachten des 19. Jahrhunderts, hielt sich Napoleon in seinem Hauptquartier in der Nähe des Dorfes Borodino auf und gab von dort aus Befehle an seine Generäle. Bei Waterloo führte er die Grande Armée von seinem Hauptquartier auf dem Gutshof La Belle Alliance aus, da war er bereits ein alter und kranker Mann.
Nicht gesichert, aber wahrscheinlich ist, dass Napoleon in seinen frühen Schlachten, etwa bei Marengo (1800), an vorderster Front kämpfte. Damals war er vergleichsweise jung und fit, ein charismatischer Anführer, der seine Truppe motivieren wollte. Doch das war die Ausnahme. Napoleon, er gilt als militärisches Genie, schlug und überlebte mehr als sechzig Schlachten. Hätte er sich bei allen höchstpersönlich ins Kampfgetümmel gestürzt, wäre ihm dies mit Sicherheit nicht gelungen.
Waren Fliegen Napoleons letzte Pein?
Welch stilles Ende eines zuvor so spektakulären Lebens. Nach Waterloo, nach der Niederlage in seiner letzten Schlacht, wird Napoleon 1815 nach St. Helena verbannt, eine Insel im Nirgendwo des Südatlantiks, 1800 Kilometer von der afrikanischen, 3200 Kilometer von der südamerikanischen Küste entfernt. Er litt an Magengeschwüren, an Gicht und einer Nervenkrankheit, die seine Stimmungen schwankend machte. Ridley Scotts «Napoleon» widmet diesen letzten Jahren nur noch wenige Bilder. Eine Kameraeinstellung zeigt bedeutungsvoll in Grossaufnahme eine fette exotische Fliege auf Napoleons rechter Hand.
Tatsächlich kämpfte Napoleon, dessen Kriege zwischen vier und sechs Millionen Menschen das Leben gekostet haben, am Ende seines Lebens einen aussichtslosen Kampf gegen die Fliegenplage auf St. Helena. Immer wieder ist in seiner Korrespondenz von den Insekten die Rede. In einem Brief an seinen Bruder Joseph, geschrieben am 2. August 1816, berichtet Napoleon: «Die Fliegen sind hier eine Plage. Sie sind so gross und so frech, dass sie einem ins Gesicht fliegen und einen beissen. Auch wenn man schläft.»
«Napoleon» mit Oscarpreisträger Joaquin Phoenix in der Titelrolle und Vanessa Kirby in der Rolle der Joséphine ist ab dem 23. November in den Deutschschweizer Kinos zu sehen.
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