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Interview zu Basler Theaterauftritt
«Das Mädchen hatte Spass dabei»

Sorgt bei einigen für rote Köpfe: Der Auftritt einer Neunjährigen in Romeo Castelluccis Basler «Requiem»-Inszenierung.
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Ein Mädchen wird mit Farbe bestrichen, später mit Honig übergossen, dann mit Asche und Federn beworfen. In der Schlussszene wird ein Baby auf die Bühne gebracht und dort von seiner Mutter und seinen Begleiterinnen zurückgelassen: Diese Szenen sind derzeit in einer Inszenierung von Mozarts «Requiem» am Theater Basel zu sehen.

Das Publikum ist grösstenteils begeistert von der jüngsten Arbeit des italienischen Regisseurs Romeo Castellucci. Einige sind aber auch empört: Die Inszenierung sei «Folter auf der Bühne unter dem Deckmantel der Kunst», urteilte eine Heilpädagogin und Früherzieherin gegenüber 20 Minuten – und entfachte damit eine Debatte.

Herr Castellucci, warum diese Provokation?

Wenn ich mit einer neuen Inszenierung beginne, habe ich keine bestimmte Absicht, auch wenn ich mit meinen Bühnenarbeiten auf den Zustand unserer Welt reagiere. So war das auch im Fall meiner Basler Inszenierung. Hier war mein Ausgangspunkt die unglaubliche Musik von Mozart und ihr Titel: «Requiem».

Ein Requiem ist eine Messe für die Toten.

Ja, aber Mozarts «Requiem»-Komposition ist das Gegenteil: Sie ist voller Leben und Freude, im Grunde genommen ist sie eine Feier des Lebens. Das ist bemerkenswert, weil das «Requiem» Mozarts letztes Werk ist. Er schrieb es im Bewusstsein seines nahen Todes – und dennoch ist es weder dunkel noch traurig.

Was eigentlich seltsam ist.

Es ist zumindest paradox. Aber unser aller Leben ist durchwirkt von dieser Paradoxie: Wir leben mit dem Bewusstsein, dass wir eines Tages sterben werden. Aber gerade die Vergänglichkeit unseres Daseins macht es so kostbar, so schön. Das ist die philosophische Einsicht, der ich in meiner Inszenierung Ausdruck geben will. Mozarts «Requiem» ist ein Monument dieses Gefühls, im Grunde genommen eine Feier des sich wiederholenden Zyklus von Leben und Tod. Das letzte Bild meiner Inszenierung ist denn auch ein echtes Baby.

Das Baby wird von seiner Mutter in der Mitte der Bühne abgelegt und dort allein zurückgelassen. Eine Zuschauerin war empört, weil das Baby in der von ihr besuchten Vorstellung zu weinen begann.

Normalerweise weint das Baby nicht. Aber wenn ein Baby weint, dann ist das eigentlich immer ein Schrei nach Leben. Und das passt zu meiner Inszenierung: Im Schlussbild meines «Requiems» kann die Anwesenheit des Babys auf der Bühne die Frage aufwerfen, wie die Zukunft unserer Kinder aussieht, was eine drängende Frage ist.

Stark zu reden gab die Szene mit dem neunjährigen Mädchen, das von zwei Mitgliedern des Chors mit Farbe bestrichen, dann hochgehoben und minutenlang an die Bühnenrückwand gehängt wird, während der Chor singt und tanzt. Warum diese Szene?

Dieses Bild ist für Interpretationen offen. Auch für mich ist es noch immer ein Rätsel. Ich habe nur eine Hypothese, wie es verstanden werden kann: Für mich hat es sehr viel mit der Figur des Sündenbocks zu tun.

Mit dem Sündenbock?

Ja, das ist eine Figur, die es überall auf der Welt gibt: Jemand Unschuldiges wird geopfert, damit die Gesellschaft ihre Verzweiflung und Aggressionen abbauen und wie bisher weiterleben kann. Das ist etwas, was uns durch die Menschheitsgeschichte hindurch immer wieder in unterschiedlichen Formen begegnet.

«Ich kann die Empörung verstehen, und ich bin sogar glücklich darüber.»

Und dafür könnte das Mädchen in Ihrer Inszenierung stehen?

Ja, wenn wir an den Klimawandel denken, könnte die Szene mit dem Mädchen sogar als politisch verstanden werden: Wir opfern die Zukunft einer jungen Generation, um wie bisher leben zu können. Aber das ist nur eine Lesart. Es gibt viele Interpretationen – und ich möchte keine als verbindlich vorgeben. Nur etwas möchte ich klarstellen: Das Mädchen und ich haben bei der Inszenierung zusammengearbeitet, um ein Kunstwerk zu schaffen. Da gab es keinen Zwang meinerseits. Im Gegenteil: Das Mädchen hatte immer Spass bei der Arbeit.

Was sagen Sie Zuschauerinnen und Zuschauern, die nun trotzdem empört sind, wenn sie das Mädchen an der Wand hängen sehen und wie es mit Honig übergossen wird?

Gegen diese Empörung kann ich nichts tun. Ich kann sie verstehen, und ich bin sogar glücklich darüber.

Sie sind glücklich?

Ja, weil meine Inszenierung offenbar nicht den Erwartungen entspricht. Ich glaube an den Wert des Zweifels in einer Welt, in der wir von einfachen Antworten umgeben sind.

Ein Sündenbock? Ein Mädchen wird in Romeo Castelluccis «Requiem» erst mit Farbe bestrichen und dann mit Federn beworfen.

In Ihrer Inszenierung werden auf die Rückwand die Namen von Tieren, Sprachen und Städten projiziert, die teils vor Jahrtausenden verschwunden sind. Gegen Ende rücken die Nachrichten des Verschwindens immer näher und weisen in die Zukunft: Eines Tages könnte das Basler Münster verschwinden – oder das Museum Tinguely, heisst es da.

Ja, ich glaube, wir müssen uns bewusst sein, dass Aussterben nicht etwas ist, was nur in der Vergangenheit geschah. Alles wird eines Tages verschwinden, nicht nur wir selbst, auch der Stuhl, auf dem wir gerade sitzen, sogar wertvolle Kunstwerke wie Leonardo da Vincis «Mona Lisa» werden eines Tages zu Staub zerfallen.

Einige haben Angst, dass der von Ihnen erwähnte Zyklus von Leben und Tod mit den nächsten Generationen abbricht: weil die Erde durch den Klimawandel zerstört wird. Was kann Kunst angesichts dieser Sorge ausrichten?

Ich verstehe, dass die Zerstörung unseres Planeten ein politisches Thema ist. Und dass die Menschen deshalb auf die Strasse gehen, weil sie von der Politik Lösungen verlangen. Als Bürger unterstütze ich das. Aber als Künstler ist es nicht meine Aufgabe, Antworten auf drängende politische Fragen zu geben. Meine Inszenierung ist deshalb auch nur ein Vorschlag, sich mit der Vergänglichkeit des Lebens auseinanderzusetzen. Als Künstler bin ich kein besserer Mensch als meine Zuschauerinnen und Zuschauer. Ich mache kein pädagogisches Theater. Jede Zuschauerin und jeder Zuschauer muss für sich Antworten auf die Fragen finden, die von meiner Inszenierung aufgeworfen werden.

Viele Kunstschaffende sehen das anders: Sie wollen die Welt verändern und verstehen sich als politische Aktivistinnen und Aktivisten. Zum Beispiel der Schweizer Regisseur Milo Rau. Verurteilen Sie diese?

Nein, jeder Künstler hat seine eigenen Herangehensweisen. Ich persönlich glaube einfach nicht daran, dass Kunst ein Werkzeug ist, um die Wirklichkeit zu verändern. Das funktioniert nicht. Ich finde, es könnte – in politischer Hinsicht – sogar gefährlich sein, die Bühne für Statements zu nutzen.

Warum?

Weil es oftmals so ist, dass alle im Publikum einverstanden sind, wenn auf der Bühne gegen etwas protestiert wird. Die Zuschauenden fühlen sich bestätigt und getröstet. Aber darüber hinaus passiert nichts. Es wird also nichts verändert, auch wenn die Künstlerinnen und Künstler sich das vielleicht zum Ziel gesetzt haben. Ich finde es daher besser, ein Problem zu formulieren und das Theaterpublikum mit dem Bösen zu konfrontieren, das in uns allen ist.

Das Böse ist in uns allen?

Ja, diese Einsicht finde ich viel produktiver, als mit dem Finger auf jemanden zu zeigen und zu sagen: Das da ist der «bad guy».

Eine Feier des Lebens: Das will Romeo Castelluccis «Requiem» sein.

Würden Sie denn bestreiten, dass Sie das Publikum provozieren wollen?

Provokationen sind langweilig und oftmals vorhersehbar. Ich glaube an Überraschungen – und der erste Zuschauer, der in meinen Inszenierungen überrascht werden soll, bin ich.

Heute will Kunst oftmals etwas ganz anderes: Sie will nicht überraschen oder herausfordern, sondern die Zuschauerinnen und Zuschauer in ihren Ansichten bestätigen und möglichst niemanden verletzen.

Meine Kunst ist das Gegenteil: Wir Künstlerinnen und Künstler müssen Fragen aufwerfen. Dafür müssen wir die bisherigen Antworten verbrennen. Es gibt eine wunderbare Definition des deutschen Philosophen Martin Heidegger: Die Schönheit des Künstlers ist es, ein Problem zu bereiten. Ich bin damit voll und ganz einverstanden: Wir Künstlerinnen und Künstler arbeiten zwar mit moralischen Fragen, aber wir selbst sind keine Moralisten und zum Glück auch keine Politiker. Die Kunst hat eigene Gesetze – und deshalb auch ganz andere Möglichkeiten als die Politik.

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«Requiem» von Romeo Castellucci ist noch am 12. und 15. Juni am Theater Basel zu sehen.