Mountainbike-Weltcup in Lenzerheide«Das perfekte Märchen»: Schurter fährt vor Heimpublikum zum Rekord
In Lenzerheide sorgt Nino Schurter für ein Ausrufezeichen. Er siegt vor Heimpublikum und macht sich mit seinem 34. Weltcupsieg zum alleinigen Rekordhalter. Alessandra Keller holt bei den Frauen den 3. Rang.
Und dann kann sich sogar der gestandene Mountainbike-Crack Thomas Frischknecht nicht mehr gegen die Tränen wehren. Während das Publikum «Nino! Nino! Nino!» skandiert, fährt Nino Schurter beim Weltcup in der Lenzerheide die Konkurrenz in Grund und Boden. Schmeisst im Ziel seine Handschuhe in die tobende Menge und fällt seinen Betreuern in die Arme, bevor er sein Rad in die Höhe wuchtet.
«Das perfekte Märchen», so bezeichnet er seinen Triumph. Tatsächlich hätten die Filmemacher aus Hollywood das Drehbuch des Cross-Country-Rennens der Männer nicht kitschiger schreiben können: Bei seinem Heimweltcup, da, wo er sich 2018 zum Weltmeister gekrönt hatte, schafft Schurter, was bisher keiner vor ihm erreicht hat. Er holt sich den 34. Weltcupsieg und lässt damit die französische Bike-Legende Julien Absalon hinter sich. Endlich. Mehr als ein Jahr hat der Bündner darauf warten müssen.
«Es gibt dafür keinen besseren Ort als die Lenzerheide – es ist einfach verrückt!», sagt er im Siegerinterview. «Wenn es darauf ankommt, kann ich noch mehr aus mir herausholen.» Der zehnfache Weltmeister wollte sich diesen Sieg keinesfalls entgehen lassen. Dafür hat er am vergangenen Wochenende auf die Schweizer Meisterschaft verzichtet. Schliesslich könnte es sein «letzter Tanz» auf dieser Strecke sein, wie Schurter selbst es nennt. Tatsächlich ist offen, wann der nächste Weltcup in der Lenzerheide stattfinden wird. Denn: Im kommenden Jahr wird das Wallis den Schweizer Weltcup austragen, quasi als Testlauf für die Mountainbike-WM 2025. Zudem ist offen, wie lange der Churer überhaupt noch antreten will.
Auch deshalb setzt der Bündner alles auf eine Karte. Er entscheidet sich für schnelle, glatte Reifen – obschon sich vor dem Rennen Regen abzeichnet und diese dann nur wenig Halt liefern würden. Was beinahe ins Auge geht, als es auf der ersten von sieben Runden tatsächlich zu regnen beginnt. «Ich bin fast von einem Felsen hinuntergestürzt.»
«Er hat so lange auf diesen Tag gewartet.»
Gleich vom Start weg macht Schurter Druck. Dezimiert mit horrendem Tempo die Spitzengruppe bereits früh auf fünf Fahrer. Und dann ist auch noch das Glück auf seiner Seite: Ein Sturz in einer ansteigenden Spitzkehre distanziert drei der namhaften Konkurrenten. Nur Flückiger gelingt es, sich mit Schurter abzusetzen. Lange hält aber auch er, der mit einem verletzten Daumen fährt, nicht mit. Schurter reisst eine Lücke auf. Zielpassage für Zielpassage treiben ihn die Zuschauermassen weiter – entfesselt, so wie der Fahrer selbst. Der Churer verteidigt seinen Vorsprung und schafft es 15 Sekunden vor dem Südafrikaner Alan Hatherly und dem Franzosen Jordan Sarrou ins Ziel.
«Er hat so lange auf diesen Tag gewartet», sagt ein sichtlich gerührter Thomas Frischknecht. Der Teamchef des Siegers nennt es das Tüpfchen auf dem i der Karriere seines 37-jährigen Fahrers. «Auch bei einem Nino Schurter muss alles zusammenpassen, damit so etwas noch möglich ist.»
In die Top Ten fährt Thomas Litscher (9.), und knapp hinter ihm folgen Mathias Flückiger (11.), Lars Forster (13.) und Vital Albin (15.). Die weiteren klassierten Schweizer: Joel Roth (26.), Alexandre Balmer (31), Sandro Spena (41.), Andri Frischknecht (42.), Timon Rüegg (46.), Simon Walter (51.), Marcel Guerrini (65.), Sven Olivetti (70.), Jan Sommer (72.), Nick Burki (75.), Fabio Püntener (78.), Gian Andri Schmid (85.).
Keller sprintet mit Kraftakt aufs Podest
Damit hatte wohl niemand gerechnet. Nachdem die Französin Loana Lecomte am Freitag im Short Track als 21. abgekämpft ins Ziel gefahren war, hatten sie für das Cross-Country-Rennen am Sonntag viele abgeschrieben. Doch offenbar hat dies den Kampfgeist der jungen Fahrerin geweckt: Obschon sie wegen des Short-Track-Resultats aus der dritten Reihe ins Rennen starten muss, kämpft sie sich sofort in eine fünfköpfige Spitzengruppe vor. Lange Zeit gibt dort die Schweizerin Alessandra Keller das Tempo vor, selten tut dies die Weltmeisterin Pauline Ferrand-Prévot.
Zwischenzeitlich setzen sich die beiden Französinnen allein ab, testen die Reserven der Gegnerinnen aus – und taktieren in einer Waldpassage etwas zu lange. Das Kräftemessen der Spitzenfahrerinnen ermöglicht es Keller, begleitet von der Niederländerin Anne Terpstra, die Lücke zur Spitze wieder zu schliessen. Doch beim letzten langen Anstieg straft Lecomte alle Zweifler Lügen.
«Noch fünf Sekunden!», ruft der Teamchef. Dann gibt es für Keller kein Halten mehr.
Sie verschärft das Tempo derart, dass nicht einmal mehr die Weltmeisterin mithalten kann, und lässt den anderen Fahrerinnen keine Chance mehr. Und plötzlich reisst die Spitzengruppe völlig auseinander. Ferrand-Prévot fällt zurück – derart, dass Experten einen Platten vermuten. Wie sich aber herausstellt, ist nicht dem Reifen, sondern der Fahrerin selbst die Luft ausgegangen. Was in die Hände von Alessandra Keller spielt, die nach dem ersten Drittel der Schlussrunde 15 Sekunden hinter der Weltmeisterin liegt.
Doch dann tut die Schweizerin das, was sie so gut kann: kämpfen. Obschon das Rennen um einen Podestplatz für sie gelaufen scheint, bleibt sie dran. Nimmt der Französin Sekunde um Sekunde ab. Als ihr Teamchef Ralph Näf vom Streckenrand zuruft: «Noch fünf Sekunden!», gibt es für die Nidwaldnerin kein Halten mehr. Und der Kraftakt zahlt sich aus. Gerade noch vor der Zielgeraden schiesst Keller regelrecht an Ferrand-Prévot vorbei – und sichert sich hinter Lecomte und Terpstra ihren dritten Podestplatz im Cross-Country.
Neff weiter auf Formsuche
Für die übrigen Schweizerinnen ist es kein guter Tag. Nationaltrainer Edi Telser sagt es so: «Heute haben alle ein bisschen Mühe.» Linda Indergand, die ein gutes Rennen zeigt und lange auf Top-Ten-Kurs ist, wird vom Pech eingeholt. Ein Platten auf der letzten Runde wirft sie auf Platz 15 zurück. Sina Frei, die in der Startphase des Rennens den Takt angibt, kann nicht mithalten und muss sich mit Rang 17 begnügen. Und Olympiasiegerin Jolanda Neff findet – wie bereits beim Weltcup-Auftakt im tschechischen Nove Mesto – auch in Lenzerheide nicht zu ihrer gewohnten Form.
Im Interview sagt die St. Gallerin, sie habe «einige Dinge ändern müssen». Allerdings wollte sie dazu nicht mehr verraten. Nur so viel: «Ich kann keine Wunder erwarten.» Eine Änderung ist jedoch augenfällig, sie trägt ihren Lockenkopf wieder blond. Die weiteren Schweizerinnen: Ramona Forchini (22.), Steffi Häberlin (26.), Seraina Leugger (30.), Chrystelle Baumann (43.), Tina Züger (51.), Rebekka Estermann (71.).
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