Analyse zu Kate Bushs «neuem» Hit Vom Sofa aus 1,4 Millionen verdient
Das gab es noch nie: Das 37 Jahre alte Lied «Running Up That Hill» toppt weltweit die Charts – dank Netflix. Wie funktioniert der Retro-Trend? Und hört eigentlich noch jemand neue Musik?
Kate Bush steht mit ihrem 37 Jahre alten Lied «Running Up That Hill» in Grossbritannien auf Platz 1 der Charts. Noch nie war ein Nummer-1-Hit älter, sprich der Zeitraum zwischen Veröffentlichung und Platzierung grösser. Zuvor hatte Bush bereits in neun anderen Ländern die Spitze erreicht, auch in der Schweiz, und in 19 Ranglisten die Top 10 geknackt.
Der Erfolg der Single von 1985 ist eine dieser Kuriositäten des Internetzeitalters, das mit seiner viralen Dynamik längst Vergessenes oder kaum Gesehenes an die Oberfläche spülen kann.
Im Falle von «Running Up That Hill» hat es dafür den Netflix-Superhit «Stranger Things» gebraucht. Das Lied ist dank prominenter Platzierung in der neu angelaufenen vierten Staffel zum Lieblingslied der Fans der Serie geworden. Das dürften mehrheitlich Menschen unter 30 sein, die ihre Kulturprodukte streamen. Durch «Stranger Things» hat Kate Bush im Pop-Ruhestand ein riesiges neues Publikum erhalten – es ist die erfolgreichste Netflix-Serie des laufenden Jahres.
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Für den Grossteil dieses Publikums funktioniert Bushs Song ganz einfach wie ein neues Lied. Viele sind jünger als der Song selber und haben ihn in der Serie zum ersten Mal gehört. In diesen Ohren klingt die Musik aufregend – und Bush scheint einen Nerv zu treffen. Dass die Klänge der 1980er gerade von Popgrössen wie The Weeknd, Dua Lipa oder Ed Sheeran neu aufgelegt wurden, dürfte den Effekt noch verstärken.
An der Stelle muss auch gesagt sein: «Running Up That Hill» war nach seiner Veröffentlichung in den 80ern bereits ein internationaler Hit, der Song hat sich bereits als erfolgreich bewiesen. Und dank Streaming ist er für die Millionen «Stranger Things»-Fans sofort zugänglich, zum Rauf- und Runterhören, ohne dass man dafür auf eine gut sortierte Vinyl- oder CD-Sammlung der Eltern hoffen müsste.
Solche Recycling-Hits, die sich aus dem staubigen Backkatalog des Popschaffens noch einmal ins Rampenlicht hochschrauben, waren in jüngerer Zeit wiederholt zu beobachten. Die Auslöser sind vielfältig, solange sie sich digital multiplizieren lassen: Vielleicht postet ein millionenfach gefolgter Mensch auf Instagram einen Ausschnitt von einem Song, oder auf Tiktok wird eine neue Challenge damit unterlegt, oder eben, ein weltweiter Serienhit verwendet ein Lied für den Soundtrack.
Virale Lieder steigen in den Hitparaden höher, als sie es in ihrem ersten Leben geschafft haben.
Fleetwood Mac etwa hatten schon wiederholt virale Momente, aber auch Britney Spears’ Werk gibt schon Songs her, die alt genug sind, dass sie für viele Streamerinnen und Streamer neu zu entdecken sind.
Da Streaming längst den entscheidenden Anteil der Chartsberechnungen ausmacht, steigen virale Lieder wie «Running Up That Hill» in den Hitparaden höher, als sie es in ihrem ersten Leben geschafft haben. 1985 erreichte Kate Bush mit der Single Platz 3 in England, in den USA bloss Platz 30. Nun hat «Running Up That Hill» 270 Millionen Streams auf Spotify angehäuft – und damit für die Sängerin auch bei bescheidenen 0,005 Franken pro Stream rund 1,4 Millionen Franken eingespielt. Bush hält nach wie vor die Rechte an der Musik.
Das Beispiel macht auf eigentümliche Art deutlich, wie schwer es neue Musik im Streaming-Zeitalter hat.
Es gibt einen riesigen Fundus an bestehender, teils bahnbrechender und schon einmal sehr erfolgreicher Musik, der für alle jederzeit zugänglich und für jüngere Konsumentinnen und Konsumenten neuwertig ist. Diese Songs stehen damit in direkter Konkurrenz zu neuen Releases. Kein Song wurde in der letzten Woche häufiger gestreamt als «Running Up That Hill», sogar die jüngsten Hits von Harry Styles und Latin-Rekordstreamer Bad Bunny verweist sie auf die Plätze.
Alte Klassiker und ein paar wenige Superstars dominieren die Streaming-Plattformen.
Dazu kommt, dass die Menschen auch beim Musikhören Gewohnheitstiere sind: Die älteren Spotify-Userinnen und -User hören am liebsten Songs, die sie von früher kennen. Die Top 50 der US-Charts machen gemäss NZZ mittlerweile weniger als 3 Prozent der Streaming-Umsätze aus. Von den neueren Acts ist ohnehin nur eine Handvoll dick im Geschäft: 0,7 Prozent der Künstlerinnen und Künstler machen über 90 Prozent der Einnahmen unter sich aus. So gehören etwa die 2020 und 2021 veröffentlichten Alben von Dua Lipa, Olivia Rodrigo und Ed Sheeran heute immer noch zu den zehn meistgehörten auf Spotify.
Runtergebrochen heisst das: Alte Klassiker und ein paar wenige Superstars dominieren die Streaming-Plattformen. Gegen diese Wand rennt neue Musik an.
Die Mega-Musik-Bibliothek Spotify wächst täglich um 60’000 neue Werke.
Trotzdem: Die Mega-Musik-Bibliothek Spotify wächst täglich um 60’000 neue Werke. 82 Millionen Songs sollen verfügbar sein, bei Konkurrent Apple Music sind es gar 90 Millionen. Man könnte sich durchaus fragen: Braucht es bei dem Angebot überhaupt noch neue Musik? Wie viel Musikauswahl kann die Menschheit vertragen? Ohne Algorithmen hätten wir die Übersicht längst verloren.
Nun, bei 422 Millionen aktiven Nutzerinnen und Nutzern findet sich auf Spotify immer noch genügend Publikum, das kleinere Acts am Weitermachen hält (Apple veröffentlicht keine Nutzungszahlen). Natürlich ist darunter auch Brillantes, das bahnbrechend werden kann. Und natürlich können die wundersamen Dynamiken des Internets auch neue Songs zu globalem Ruhm hochwaschen – wie 2021 etwa «Heat Waves» von Glass Animals mit 1,7 Milliarden Spotify-Streams.
Einen Wettbewerbsvorteil haben die aktuellen Künstlerinnen und Künstler gegenüber den alten: Sie leben auf jeden Fall noch und können touren. Und dort lässt sich mit Musik ja überhaupt noch Geld zum Überleben verdienen.
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