Johnsons Brexit oder zweites Referendum?
Grossbritannien wählt ein neues Parlament. Die Gewinner bestimmen, wohin die Brexit-Reise geht. Antworten auf die wichtigsten Fragen.

Heute findet in Grossbritannien die wichtigste Parlamentswahl seit Jahrzehnten statt. Schliesslich geht es auch um den Brexit und damit um eine Richtungsentscheidung, die das Schicksal Grossbritanniens und Europas auf lange Sicht verändern wird. Die favorisierten Konservativen um den amtierenden Premier Boris Johnson sind mit einem einprägsamen Slogan angetreten: «Get Brexit Done» («Vollzieht den Brexit»).
Welche Bedeutung haben die britischen Parlamentswahlen für den Brexit?
Sollten die Tories um Boris Johnson eine klare Mehrheit im Unterhaus erringen, steht ein baldiger EU-Austritt bevor. Johnson könnte schon in der nächsten Woche mit der Ratifizierung seines mit der EU vereinbarten Brexit-Abkommens beginnen. Der alte und wohl neue Premier möchte noch vor Weihnachten über seinen Austrittsdeal abstimmen lassen. Der EU-Austritt soll am 31. Januar 2020 vollzogen werden. Danach würden die komplizierten Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen mit Brüssel beginnen, das bis spätestens Ende des Jahres 2020 in Kraft treten muss. Der Brexit birgt viele Risiken, und er spaltet das Vereinigte Königreich. Die EU-freundlichen Schotten erwägen bereits eine zweite Volksabstimmung über ihre Unabhängigkeit.
Was passiert, wenn die Konservativen die Parlamentsmehrheit verfehlen?
Dann kommt es, wie schon bei den letzten Wahlen von 2017, zu einem sogenannten «hung parliament», also einer Sitzverteilung im Unterhaus, bei der es keine klare Mehrheit für eine der beiden grossen Parteien gibt. Bei diesem Szenario geht das Gezerre um den Brexit weiter. Gleichzeitig würde es Diskussionen um eine neue Volksabstimmung geben. Die Opposition um Labour-Chef Jeremy Corbyn will den EU-Austritt nochmals verschieben: Erst soll ein neuer Deal mit Brüssel verhandelt werden, der Grossbritannien deutlich enger an die EU bindet, als es Johnsons Vereinbarung tun würde. Schliesslich soll die Bevölkerung in einem Referendum zwischen diesem Deal und einem Verbleib in der EU entscheiden. Ein zweites Brexit-Referendum ist möglich, wenn Labour, die proeuropäischen Liberaldemokraten und die Schottische Nationalpartei im Unterhaus so stark werden, dass sie eine Koalition bilden können.
Was sagen die Umfragen?
Wahlumfragen bestätigen die Favoritenrolle von Boris Johnson und seinen Tories, obwohl die Labour-Partei zuletzt aufgeholt hat. Gemäss der neuesten Erhebung des Meinungsforschungsinstituts Yougov kommen die Konservativen auf 43 Prozent. Das würde 339 Mandate im Unterhaus ergeben – damit hätten die Tories eine komfortable Mehrheit von 28 Stimmen. Yougov zufolge erreicht Labour 34 Prozent (231 Sitze).
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Trotz Klarheit bei den Umfragen können die Tories noch lange nicht triumphieren. Selbst ein deutlicher Vorsprung in den Umfragen bedeute nicht unbedingt eine grosse Mehrheit im Unterhaus, warnt der renommierte Wahlforscher John Curtice von der Universität Strathclyde in Glasgow. Wahlvorhersagen sind mit Vorsicht zu betrachten.
Warum sind Prognosen schwierig?
Das liegt am britischen Mehrheitswahlrecht. Ins Parlament ziehen nur die Kandidaten mit den jeweils meisten Stimmen in einem der 650 Wahlkreise ein, egal, wie knapp ihr Sieg war. Die Stimmen für unterlegene Kandidaten verfallen. Das macht es sehr schwer, aus landesweiten Umfrageergebnissen auf die mögliche Sitzverteilung im Parlament zu schliessen. Ausserdem ist das Rennen zwischen Kandidaten der Labour-Partei und den Konservativen in zahlreichen Wahlkreisen sehr eng. Dabei gilt auch: Eine Tory-Mehrheit kann verhindert werden, wenn genügend Stimmende taktisch wählen.
Taktisch wählen? Was heisst das?
Das bedeutet, dass Anhänger unterschiedlicher Oppositionsparteien in ihrem Wahlkreis jeweils dem Kandidaten ihre Stimme geben, der die besten Aussichten hat, den Tory-Kandidaten zu besiegen. Wahlexperten gehen davon aus, dass schon 40'700 Wähler in drei Dutzend hart umkämpften Wahlkreisen mit einer entsprechenden Entscheidung eine absolute Tory-Mehrheit im Unterhaus verhindern könnten. Offen bleibt die entscheidende Frage, ob die Wählenden tatsächlich taktisch stimmen werden und damit eine andere als ihre eigene Partei unterstützen – und dies umso mehr, als Labour und Liberaldemokraten keine Wahlallianz eingegangen sind.
Wo sind die Parlamentswahlen am spannendsten?
Tories und Labour konzentrierten sich im Wahlkampf vor allem auf die ehemaligen Industrieregionen in Nord- und Mittelengland. Dort haben die meisten Wähler beim Referendum von 2016 zwar für den Brexit gestimmt, unterstützen in Parlamentswahlen aber klassischerweise eher Labour. Interessant wird es auch im Wahlkreis im Londoner Vorort Uxbridge. Labour-Kandidat Ali Milani könnte Premier Johnson gefährlich werden und ihm die vergleichsweise dünne Mehrheit von rund 5000 Stimmen abjagen. In diesem Fall könnte Johnson sein Abgeordnetenmandat verlieren.
Was würde eine solche Überraschung bedeuten?
Premierminister kann nur sein, wer auch dem britischen Parlament angehört. Geschäftsführender Premier würde Johnson aber wohl bleiben, bis eine neue Regierung steht. Man munkelt, dass ein Tory-Parlamentarier in einem sicheren Wahlkreis sofort zurücktreten und ihm Platz machen würde, sodass Johnson dort nach einer Nachwahl binnen weniger Wochen nachrücken könnte. Aber das funktioniert natürlich höchstens, wenn die Tories die Wahlen insgesamt gewonnen haben. Dass Johnson Uxbridge tatsächlich verliert, ist allerdings ziemlich unwahrscheinlich. Die letzten Yougov-Umfragen geben ihm 49 Prozent, Labour 40 und den Liberaldemokraten 6. Selbst wenn Lib-Dem-Wähler zu Labour umschwenken würden, würde es nicht reichen.
Wann ist mit Wahlergebnissen zu rechnen?
Die Wahllokale sind am Donnerstag von 8 bis 23 Uhr (MEZ) geöffnet. Unmittelbar danach wird eine Prognose im Auftrag der Fernsehsender BBC, ITV und Sky News veröffentlicht. Die Auszählung dürfte sich bis in die Morgenstunden am Freitag hinziehen. Mit einem offiziellen Endergebnis ist erst im Laufe des Freitags zu rechnen. Zur Wahl aufgerufen sind rund 46 Millionen stimmberechtigte Britinnen und Briten.
Wie verläuft die Regierungsbildung?
Bei klaren Mehrheitsverhältnissen beauftragt Königin Elizabeth II. den Wahlsieger mit der Bildung einer Regierung. Sollte es zu einem «hung parliament» kommen, müssen Verhandlungen über eine Koalition oder die Duldung einer Minderheitsregierung stattfinden. Die Konservativen von Premier Johnson haben derzeit kaum Aussicht auf eine erfolgreiche Zusammenarbeit mit anderen Fraktionen. Mit der nordirisch-protestantischen DUP, die Johnsons Vorgängerin Theresa May nach der Wahl 2017 stützte, hat sich Johnson im Streit über seinen Brexit-Deal überworfen. Für die Brexit-Hardliner ist klar: Die Tories müssen die absolute Unterhausmehrheit erringen.
Artikel mit Material der Nachrichtenagentur Keystone-SDA.
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