Kolumne «Fast verliebt»Radikale Gegenwart
Ende Jahr ist eine gute Gelegenheit, um über eine der wichtigsten Beziehungen nachzudenken, die jeder von uns führt: Die zu der Zeit, in der wir leben.
Wie war Ihr persönliches 2024? In den letzten Wochen habe ich viele Gespräche mit Freundinnen auf Weihnachtsmärkten oder beim Apéro mit Kollegen geführt. Trifft man sich im Dezember, kommt immer die Frage nach dem persönlichen Jahresrückblick auf.
Es gibt Jahre der Glanzleistungen und des Stolzes. Manchmal hat man eher Arbeit im Verborgenen geleistet. Ist innerlich gewachsen. Dafür bekommt man keinen Orden, aber auf lange Sicht ist menschliche Reife wichtiger als die nächste Beförderung. Es gibt aber auch Jahre, deren Bilanz bescheiden ausfällt. Vielleicht muss man sich ein Versäumnis eingestehen – oder Schlimmeres.
Menschenleben sind mit Geduld zu geniessen. Ähnlich wie ETF als Altersvorsorge: Dass es sich lohnt, zeigt sich nicht immer von Quartal zu Quartal, sondern langfristig.
Aber so unterschiedlich die Jahresbilanz von Mensch zu Mensch ist: In meinem Umfeld hat sich diesmal bei jedem ein gewisser Weltschmerz beigemischt. Konflikte, Kriege, Klimakrise. Tote Kinder, Wirtschaftskrise, Demokratie in Gefahr. Und wer mal einen Tag keine Nachrichten liest, hat den nächsten Regimesturz verpasst.
Die Befassung mit der Gegenwart war zuletzt nicht leicht. Die Welt ist erschreckend anders als noch vor wenigen Jahren. Und doch ist eine Sache gleich geblieben: Wer sich von der Gegenwart abwendet, verliert die Zukunft.
Nostalgie ist eine falsche Freundin
Neulich habe ich mich mal mit meinem eigenen Weltschmerz auf die Couch gesetzt. Und festgestellt, dass er mir weismachen will, früher sei alles besser gewesen. Mein kleiner Weltschmerz will dann, dass ich die Vorhänge zuziehe und bloss nichts mehr reinlasse von dieser neuen Zeit. Er will, dass ich mit ihm zusammen Angela-Merkel-Interviews lese, mit zärtlichen Gefühlen. Stabilität, Ruhe! Ach, wie war das schön. Damals.
Aber war es das wirklich? Nostalgie ist eine falsche Freundin. Beispiel Merkel: deutsche Wirtschaft verzockt, nichts fürs Klima getan, Putin angelächelt, keine Nachfolgerin aufgebaut … In Wahrheit haben wir ja vielen dieser Figuren von damals, nach denen wir uns sehnen, die Krisen von heute zu verdanken.
Unsere Zeit ist schwierig, keine Frage. Aber wenn ich ehrlich darüber nachdenke, möchte ich trotzdem in keiner anderen Zeit leben. Mir zum Beispiel kommt die Welt vor #MeToo nicht mehr in die Tüte. Wer der Vergangenheit hinterherheult, ist nicht nur rückschrittlich: Er hat auch selten recht. Tatsächlich kann ich einen gewissen Dank dafür entwickeln, eine Welt im Umbruch erleben zu dürfen – ohne zu wissen, wie es ausgeht. Zeitzeuginnenschaft war schon langweiliger. Wir Menschen von heute werden eines Tages alle viel zu erzählen haben.
Es bleibt also spannend. Noch ist alles möglich. Apokalypse und Atomkrieg sind wieder mal ausgeblieben, das ist die gute Nachricht. Rutschen Sie gut ins neue Jahr! Möge es freundlich sein zu Ihnen.
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