Interview zum Krieg in Israel«Für ein so kleines Land ist das eine grosse Belastung»
Welche Folgen hat die Gewalt im Gazastreifen für die Wirtschaft – in Israel und in den palästinensischen Gebieten? Wladimir Struminski, Wirtschaftsexperte in Israel für die deutsche Agentur für Aussenhandelsförderung, gibt Auskunft.
Drehen wir die Zeit um eine Woche zurück – zum Vortag der Hamas-Attacken. Was hatten Sie, Herr Struminski, als Wirtschaftsexperte in Israel damals für Themen auf dem Radar?
Alles ausser dem Krieg. Investitionen, Zollfragen, den Aussenhandel, das allgemeine Wirtschaftsumfeld … eines der letzten Ereignisse war, dass Israel nach zwei Jahrzehnten endlich zugestimmt hat, dass ein grosses Gasfeld vor dem Gazastreifen entwickelt wird.
Eine gute Neuigkeit.
Für die Palästinenser hätte dieses Gas eine wichtige Einnahmequelle werden können. Generell schien es vor den Attacken so, als könnte sich die Lage im Gazastreifen beruhigen. Dazu trug bei, dass Israel zuletzt Arbeitsgenehmigungen für 17’000 Personen ausgestellt hat, damit diese aus dem Gazastreifen nach Israel pendeln können. Aber das ist jetzt alles Makulatur.
Der Angriff der Hamas gilt als politische Zäsur. Bringt er auch eine wirtschaftliche Zäsur?
In dieser Weltregion geht man mit Prognosen grundsätzlich vorsichtig um, weil sich Dinge von einem Tag auf den anderen radikal ändern können. Die Aussichten in Gaza sind völlig unklar. Niemand weiss, wie dieser Krieg ausgehen wird, auch nicht die israelische Regierung.
Wie gross ist die Belastung für Israel selbst?
Die Armee zieht nach eigenen Angaben jetzt 300’000 Reservisten ein. Das entspricht ungefähr 7 Prozent der Arbeitsbevölkerung. Für ein kleines Land wie Israel ist der jetzige Militäreinsatz also eine grosse Belastung, mit entsprechenden finanziellen Folgen. Das Staatsdefizit wird sicher steigen, Fragen zur Währungsstabilität könnten aufkommen.
Verschlechtert sich das Investitionsklima?
Israel hält die Maastricht-Kriterien zur Staatsverschuldung ein. Im europäischen Kontext würde man sagen: Das ist eigentlich eine gute Ausgangslage. Es gibt hier auch viele innovative Firmen. Der Hightech-Sektor mischt international in der ersten Reihe mit.
«Einige Start-ups haben ihren Hauptsitz wegen der umstrittenen Justizreform im Ausland statt in Israel etabliert.»
Aber?
Gerade in diesem wichtigen Sektor sind die Investitionen zuletzt ins Stocken geraten. Mit schuld daran ist auch die umstrittene Justizreform, welche die Regierung von Benjamin Netanyahu bis zum Ausbruch des Krieges durchbringen wollte. Sie hat Proteste ausgelöst, an denen sich auch viele Leute aus der Hightech-Community beteiligt haben. Einige Start-ups haben ihren Hauptsitz in der Folge im Ausland statt in Israel etabliert. Es gab Anzeichen dafür, dass Ratingagenturen die Kreditwürdigkeit des Landes herabstufen könnten.
Und jetzt?
Immerhin ist die Justizreform vorderhand vom Tisch. Die neue Notstandsregierung hat die Ansage gemacht, dass sie keine Gesetze in die Wege leiten wird, die nicht mit der Kriegsführung zusammenhängen.
Wie lange kann Israel den Krieg finanzieren?
Israel steht unter hohem Zeitdruck. In der Vergangenheit hat das Land stets kurze Kriege geführt – 1967 den Sechstagekrieg und 1973 den Jom-Kippur-Krieg, der drei Wochen dauerte. Je länger die Kämpfe jetzt andauern, je heftiger sie werden und je mehr Fronten dabei eröffnet werden, desto gravierender werden die wirtschaftlichen Folgen. Ganz zu schweigen natürlich von den menschlichen Verlusten.
Die Beziehungen zwischen Israel und der arabischen Welt haben sich in den letzten Jahren verbessert. Was steht da auf dem Spiel?
Wirtschaftlich nicht so viel. Israels grösster Handelspartner ist China, und es gibt auch einen bedeutenden Handel mit der westlichen Welt. Im Nahen Osten war Israel dagegen bis vor kurzem eine Insel. Zwar hat sich der Handel mit den Vereinigten Arabischen Emiraten zuletzt stark entwickelt. Aber die Wirtschaftsbeziehungen zur arabischen Welt sind insgesamt noch nicht so weit ausgebaut, dass da ein grosses Risiko bestünde.
Gilt das auch für die palästinensischen Gebiete?
Die Westbank und der Gazastreifen führen zwar eigene volkswirtschaftliche Statistiken. Doch im Grunde genommen gehören sie zur Binnenwirtschaft von Israel. Der Aussenhandel dieser Gebiete ist marginal: Sie exportieren gerade einmal Waren über 190 Millionen Dollar in Länder ausserhalb von Israel. Sie haben also kaum Anbindung an den Weltmarkt.
Ist das der Grund, warum die dortige Wirtschaft stagniert?
Natürlich ist das ein wichtiger Grund. Es gibt in den palästinensischen Gebieten keine eigentliche Exportwirtschaft und nur wenig Unternehmen, die Wachstumsimpulse geben könnten. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, die Beschäftigungsaussichten schlecht. Daran sind auch die rigiden Kontrollen schuld, die Israel in diesen Gebieten durchführt. Die Bewegungsmöglichkeiten sind eingeschränkt.
Trotzdem gibt es auch in der Westbank eine Start-up-Szene.
Ja, und es gibt auch israelische Techfirmen, die Mitarbeiter in den Palästinensergebieten haben. An fleissigen und gebildeten Leuten mangelt es dort nicht. Und auch traditionelle Wirtschaftszweige wie Metallverarbeitung, Möbelproduktion oder Landwirtschaft haben ein grosses Exportpotenzial. Aber unter den gegebenen politischen Umständen wird es kaum genutzt.
Wie schlimm wäre es, wenn Israel nach dem Gazastreifen auch die Westbank abriegelt?
Für die Westbank wäre das wirtschaftlich gesehen eine Katastrophe. Schätzungsweise 200’000 Grenzgänger gehen täglich von palästinensischen Gebieten nach Israel oder in israelisch kontrollierte Gebiete innerhalb der Westbank zur Arbeit. Wenn dieser Austausch zusammenbricht, droht grosse Not.
Und welchen Schaden richtet der Krieg in Gaza an?
Die menschlichen Verluste sind schon jetzt hoch. Die wirtschaftliche Bilanz kann man erst am Ende ziehen. Sicher wird es hohe Schäden an der Bausubstanz, der Infrastruktur und an der generellen Fähigkeit dieses Gebiets geben, wirtschaftlich etwas zu produzieren. Schon jetzt hängt der Gazastreifen entscheidend von internationalen Geldgebern ab, etwa für den Import von Nahrungsmitteln. Diese Geldgeber werden in Zukunft noch viel mehr gebraucht.
Und das Erdgas – bleibt ein ferner Hoffnungsschimmer?
Ich weiss es nicht. Es wäre naiv, zum jetzigen Zeitpunkt irgendetwas dazu vorherzusagen.
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