Interview mit Stefan Küng«Ich habe eine Erinnerungslücke»
Der Radprofi spricht über seinen schlimmen Sturz an der Europameisterschaft im Zeitfahren und sagt, weshalb er einfach weiterfuhr.
Stefan Küng war an den Europameisterschaften im Zeitfahren in den Niederlanden auf Medaillenkurs, als er kurz vor dem Ziel in ein Absperrgitter krachte und blutüberströmt mit zertrümmertem Helm ins Ziel fuhr. Im Spital diagnostizierten die Ärzte eine Hirnerschütterung, einen Jochbeinbruch sowie Frakturen an der Hand. Während der Verunglückte seine Saison vorzeitig beendete, wurden die Betreuer im Teamwagen und die Rennverantwortlichen kritisiert, weil sie den verwundeten Athleten weiterfahren liessen. Der Radprofi nimmt erstmals zu den Geschehnissen Stellung.
Stefan Küng, wie geht es Ihnen?
Psychisch wie physisch geht es mir gut. Ich bin vor anderthalb Wochen aus den Ferien zurückgekehrt und bin nun wieder im Training.
Wie war es, wieder aufs Rad zu steigen?
Dann können Erinnerungen wieder hochkommen, doch diesmal war das nicht der Fall.
Warum nicht?
Ich habe eine Erinnerungslücke. Da ist nichts, was wieder hochkommen kann.
Woran erinnern Sie sich?
Ich weiss noch alles sehr genau bis kurz vor dem Aufprall. Danach sind noch einige Fetzen da, die ich selber habe und nicht von Videos oder Erzählungen weiss. Etwa, dass ich ins Ziel kam, mich hinsetzte. Oder, dass ich gesagt habe, meine Hand sei gebrochen. Ich erinnere mich auch daran, dass ich in einer Ambulanz ins Spital fuhr – aber beispielsweise nicht mehr, wie sie aussah. Die Erinnerungen sind ab der Notaufnahme wieder da.
Was genau ist passiert?
Es geschah in einer leichten Linkskurve, die durch Absperrgitter zusätzlich verengt wurde. Als die Ansage «leichte Linkskurve» kam, ging ich davon aus, dass die Passage mit den Gittern fertig sei. In meiner Auffassung musste ich nur meine Linie leicht anpassen und hielt es deshalb nicht für nötig, den Kopf zu heben – was meine Betreuer hingegen erwarteten. Das sind überhaupt keine Schuldzuweisungen. Wir reden hier von Sekundenbruchteilen, die über eine solche Situation entscheiden.
Zeitfahrer sehen in ihrer Position kaum voraus und sind von den Anweisungen aus dem Begleitfahrzeug abhängig. Ist das Vertrauen noch da?
Ja, ich vertraue meinen Leuten nach wie vor zu hundert Prozent. Wir wollen weiterhin genau so weiter zusammenarbeiten. Das tun wir schon seit Jahren, das gibt Routine. Aber die ist auf diesem Niveau vielleicht auch gefährlich.
«Obschon ich die Narben trage, die man sieht, mussten auch die Betreuer die Geschehnisse mental verdauen.»
Man hätte Sie in diesem Zustand nicht weiterfahren lassen dürfen. War es für Sie selbst keine Option, aufzuhören?
Nein. Aufstehen und weiterfahren ist ein Reflex. Es ist in mir drin, Dinge zu Ende zu bringen. So bin ich als Athlet, aber auch als Mensch. Meine Betreuer haben sich bei mir entschuldigt, dass sie mich nicht aufgehalten haben. Doch sie konnten in diesem Augenblick ja nicht beurteilen, wie es mir geht – schliesslich kann auch eine kleine Platzwunde sehr stark bluten. Genau für solche Situationen gibt es die Rennkommissare – und einer war bei uns dabei. Wenn jemand hätte eingreifen müssen, dann er. Doch auch das soll keine Schuldzuweisung sein, denn im Nachhinein sind solche Situationen immer einfacher zu beurteilen. Ich möchte aber klarstellen, dass meine Leute keine Schuld trifft, dass ich weitergefahren bin. Und obschon ich die Narben trage, die man sieht, mussten auch die Betreuer die Geschehnisse mental verdauen. Schliesslich fühlen sie sich verantwortlich für den Athleten, den sie betreuen.
Hatte es medizinische Konsequenzen, dass Sie trotz Gehirnerschütterung weitergefahren sind?
Nein. Die Gefahr in solchen Fällen besteht darin, dass man mit beeinträchtigten kognitiven Fähigkeiten weiterfährt. Das birgt ein grosses Sturzrisiko, und ein weiterer Schlag aufs Gehirn wäre verheerend.
Braucht es im Radsport noch Aufklärarbeit zum Thema Gehirnerschütterung?
Als ich vor zehn Jahren Profi wurde, redete niemand von dem sogenannten Concussion Protocol, nach welchem man heute einen gestürzten Athleten medizinisch beurteilt. Zwar ist das Thema Gehirnerschütterung im Radsport heute viel präsenter, doch längst nicht so wie in anderen Sportarten. Man muss punkto Sensibilisierung sicher noch mehr tun, die entsprechenden Vorgehensweisen müssen noch automatisiert werden. Das braucht noch Zeit. Die Beteiligten würden beim nächsten Mal wohl auch anders reagieren.
Und Sie selbst?
Ich glaube nicht, nein. Weiterfahren ist ein Reflex. Ich bin nach jedem meiner Stürze wieder aufgestanden – auch wenn ich mich in einem Fall gleich wieder hinsetzen musste, weil mein Becken gebrochen war.
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