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In einer verstörend heilen Welt

Nach vier Jahren fand der «Marsch fürs Läbe» erstmals wieder in Zürich statt.
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Gelangt man erst einmal an den Absperrgittern und Polizisten vorbei, befindet man sich plötzlich in einer heilen Welt. Einer verstörend fröhlichen, kindlichen. Über den Köpfen der rund dreihundert christlichen Abtreibungsgegner, die sich am Samstagnachmittag hier auf dem Turbinenplatz im Kreis 5 versammeln, schweben farbige Luftballone mit der Grussbotschaft «Danke, dass ich leben darf». Auf der Bühne spielt die Brassband Jubel Trubel, ein Mädchen mit Trisomie 21 grinst von einer Leinwand, sie reckt freudig ihre beiden Daumen in die Höhe. Und als später die Sängerin Sibylle Böhlen «Freud am Läbe» und «Mini Farb und dini» singt, vertiefen sich die Menschen auf den Festbänken in den Liedtext und singen mit.

Erst der menschliche Embryo aus Plastik, der an einem Stand als Briefbeschwerer dient, gibt einen Hinweis darauf, was die eigentliche Botschaft der Veranstaltung ist: Wer ein Kind abtreibt, tötet Leben. Auf ihren Flyern und in den Videobotschaften will die Organisation «Marsch fürs Läbe» vermitteln, dass jedes Leben lebenswert sei – auch jenes von Kindern mit Trisomie 21. Aber eigentlich ist sie gegen die Fristenregelung, die in der Schweiz seit 2002 gilt und es Frauen ermöglicht, ihre Schwangerschaft bis zur zwölften Woche abzubrechen.

Plastik-Embryo als Mahnung. Foto: Raisa Durandi

Auf die Frage, warum sie sich an diesem Recht stören, sagt eine ältere Frau, dass sie die Regelung früher befürwortet habe. Heute aber gehe ihr die Praxis zu weit. Abtreiben, bloss weil eine Schwangerschaft nicht in die Familienplanung passe? Sie schüttelt den Kopf. Eine andere Frau, alleinerziehende Mutter, sagt, dass das Leben von Gott komme und Gott auch über das Leben bestimme. Ein älterer Mann findet, auch Kinder, die durch eine Vergewaltigung entstanden seien, sollten leben dürfen. Es gebe genug Organisationen, die sich um die vergewaltigten Frauen kümmern würden. Und wolle eine Frau dieses Kind nicht behalten, könne sie es bei der Babyklappe abgeben.

Aus einer angrenzenden Wohnung im Puls 5 schallt jetzt laute Musik. Auf einem Banner an der Fassade steht: «If God was real it would be a queer Woman.» Gäbe es Gott, wäre er eine lesbische Frau. Ein Störmanöver der Juso, über das sich zwei Männer kurz aufregen. Das sei Gotteslästerung! Dann wenden sie sich ab.

«Wir sind unter dem Schutz Gottes.»

Um Punkt 15 Uhr wollen die Abtreibungsgegner ihren «Marsch fürs Läbe» Richtung Limmatplatz starten. Es sind jetzt rund tausend Personen anwesend, die sich eines der Plakate holen und es in die Luft halten. Die letzte Austragung des Marsches in Zürich vor vier Jahren endete mit einem Polizeieinsatz, bei dem in Oerlikon 100 Gegendemonstranten eingekesselt und auf den Polizeiposten abgeführt wurden. Letztes Jahr ist der Marsch nach Bern ausgewichen, wo es eine unbewilligte Gegendemonstration mit rund 800 Teilnehmerinnen und Teilnehmern gab. Und auch heute sind Gegendemonstrationen angesagt. Der Organisator gibt den Anwesenden Mut mit auf den Weg: «Lassen Sie sich nicht provozieren! Wir sind unter dem Schutz Gottes.»

«Unter dem Schutz Gottes» Foto: Raisa Durandi

Dann geht es erst einmal nicht weiter. Weil auf einer unbewilligten Demonstration vermummte Personen Container und Baustellenmaterial angezündet haben, geht die Polizei mit Gummischrot und Reizstoff gegen sie vor. Der Marsch verzögert sich um zehn Minuten, dann um weitere zehn. Jemand sagt: «Da hilft nur beten und singen!» Und die Frauen und Männer, die den Marsch anführen, beten und singen.

Die Demo wirkt vereinsamt

Drei Viertelstunden später setzt sich der Marsch in Bewegung. Eskortiert von der Polizei, schreiten die Abtreibungsgegner am Escher-Wyss-Platz vorbei. Passanten rufen lautstark «Buuuh!», «Gönd hei! Ihr händ in Züri nüt verlore!». Eine junge Mutter schreit: «Min Körper, mis Rächt!» Manche zeigen den Mittelfinger, schütteln missbilligend den Kopf, blasen in eine Trillerpfeife. Ihnen allen schallt ein unbeeindrucktes Hallelujah entgegen und Gebet. Als eine junge Frau mit einer Abtreibungsgegnerin spricht, entspinnt sich ein seltsamer Dialog. «Du bisch für Mord, ich bin für Läbe!», sagt die Gegnerin. Worauf die andere fragt: «Ässisch du Fleisch?» – «Ja! Aber mir gats ums Rächt vom Mänsch, nöd vom Tier.» Die junge Frau bleibt wortlos zurück.

Bis fast zum Schluss bleibt die Route des «Marsch fürs Läbe» geheim. Kurz vor der Haltestelle Quellenstrasse biegt die Polizei nach links aufs Sihlquai und von dort zurück zum Turbinenplatz. Es ist die verkürzte Route, die weniger als eine Stunde dauert.

Am Sihlquai sind keine Passanten zu sehen, der Demonstrationszug wirkt trotz der über tausend Teilnehmer vereinsamt. Eine Demonstrantin ist enttäuscht: «So sieht uns ja niemand.» Nur noch die Strassenarbeiter sehen sie, welche die abgefackelten Container zusammenkehren.