Social MediaHören Sie noch Loredana, oder canceln Sie sie?
Die sogenannte Cancel-Culture schwappt von den Social Media aufs richtige Leben über, auch in der Schweiz. Fünf Dinge, die Sie darüber wissen sollten.
Die Influencerin Mimi Jäger postete ein dämliches Insta-Video, weil eine BLM-Demo ihr den Shoppingtrip versaute – und prompt tobte der Shitstorm im Netz. Wenig später tweetete der Staatskonzern Schweizerische Post: «Wir distanzieren uns in aller Deutlichkeit von Mirjam Jägers Aussagen und werden in Zukunft nicht mehr mit ihr zusammenarbeiten.» Private Firmen zogen nach. Jäger war gecancelled.
Inzwischen hat sich die Post zwar für den Schnellschuss entschuldigt. Aber keine Frage, die sogenannte Cancel-Culture hat auch in der Schweiz Fuss gefasst. Just bekam Loredana sie zu spüren. Während ihr angebliches Betrugsopfer – es gilt die Unschuldsvermutung – in Armut lebt und nun das Begräbnis der eigenen Mutter nicht zahlen kann, protzt die Deutschrapperin mit ihrem Luxus; und der Hashtag #BoycottLoredana macht in der empörten Netzgemeinde die Runde.
Hier wird Inhalt angezeigt, der zusätzliche Cookies setzt.
An dieser Stelle finden Sie einen ergänzenden externen Inhalt. Falls Sie damit einverstanden sind, dass Cookies von externen Anbietern gesetzt und dadurch personenbezogene Daten an externe Anbieter übermittelt werden, können Sie alle Cookies zulassen und externe Inhalte direkt anzeigen.
Onlineshaming samt Cancel-Aufruf kann, ganz analog, krasse Konsequenzen haben für die Person, die im Kreuzfeuer der Kritik steht. Genau das ist auch das Ziel einer Cancel-Attacke: die Vernichtung von Reputation und beruflichem Erfolg. Jüngst erwischte es gar einen Redaktor der ehrwürdigen «New York Times»: Er musste gehen, weil er den Abdruck eines – gelinde gesagt: hochproblematischen – Meinungsstücks eines republikanischen Senators abgesegnet hatte. Sein Cancelling war auch von Kollegen eingefordert worden.
Mit der Macht solcher virtueller Boykottaufrufe ist aber auch das Unbehagen daran gewachsen. Worum es geht in der Debatte, haben wir in 5 Punkten zusammengefasst.
1. Woher kommt der Begriff?
«To cancel» bedeutet erst mal, «etwas absagen, annullieren, abbestellen». Schon 2016 taucht im «Urban Dictionary» die aktualisierte Verwendung auf: Cancelling ist der komplette öffentliche Entzug von emotionalem, virtuellem und finanziellem Support – für eine Marke, Person, auch ein Konzept. Es ist eine Art popkultureller Boykott, der über die Social Media-Plattformen losgetreten wird. Man bestellt sozusagen das Aufmerksamkeitsabonnement ab: in Zeiten der Aufmerksamkeitsökonomie eine existenzbedrohende Ansage. Die Black-Twitter-Community soll hier eine Vorreiterrolle gespielt haben. So führte ihr Protest gegen einen schwer rassistischen Tweet von Showstar Roseanne Barr 2018 zur «Cancellation», zur Einstellung der Sitcom «Roseanne».
2. Wen geht es an?
Theoretisch gilt: Ohne Aufmerksamkeit auch kein Aufmerksamkeitsentzug. Die Leute müssen im Rampenlicht stehen und davon leben, damit ein konzertiertes Cancelling sie treffen kann. Benimmt sich eine Celebrity daneben, verbreitet sie rückständige, diskriminierende, sexistische oder abgehobene Dinge, kann es sein, dass ihr Millionenpublikum – oder ein Teil davon – sich dagegen wehrt. In diesem Sinn wird die Cancel-Culture als die Rache des kleinen Mannes, der kleinen Frau angesehen; als Demokratisierungsplus der Social Media. So jammerte Kanye West 2018: «I’m canceled because I didn’t cancel Trump.» Auch Emanzipationsbewegungen wie #MeToo nutzen diese Kanäle, um lang ungehörten Stimmen Gewicht zu verschaffen.
3. Wen trifft es?
Praktisch gilt jedoch, dass die kleinen Leute klein bleiben – und die grossen Tiere, bei aller Internetaufregung, nicht gecancelled werden können. Kanye und Trump sind immer noch sehr präsent. Auch die jüngste Cancel-Aktion gegen J.K. Rowling wird die «Harry Potter»-Erfinderin (und ihren Geldbeutel) nicht wirklich schmerzen, selbst wenn sie es immerhin für notwendig hielt, sich zu erklären.
Hier wird Inhalt angezeigt, der zusätzliche Cookies setzt.
An dieser Stelle finden Sie einen ergänzenden externen Inhalt. Falls Sie damit einverstanden sind, dass Cookies von externen Anbietern gesetzt und dadurch personenbezogene Daten an externe Anbieter übermittelt werden, können Sie alle Cookies zulassen und externe Inhalte direkt anzeigen.
Für weniger prominente Persönlichkeiten, die gleichfalls am Tropf der Öffentlichkeit hängen, kann ein Cancel-Aufruf aber gravierende Folgen haben, etwa für eine Mimi Jäger. Da hocken sie lieber aufs Maul, statt sich kontrovers zu äussern. Auch die virtuelle Blossstellung von Unbekannten kann ruinieren: So verlor eine New Yorkerin wegen eines Videos, das dokumentiert, wie sie sich bei einem Hundespaziergang schlimm rassistisch verhält, innert weniger Tage Job, Hund, Ansehen. Kein Cancelling im klassischen Sinn, aber weg vom Fenster war sie trotzdem (hier gehts zum Video). Kurz: Die Faust der sozialen Medien hat Schlagkraft, und die Angst davor ist gross.
4. Wie lautet die Kritik an der Cancel-Culture?
Kritiker sehen, wie bei der Debatte über politische Korrektheit, die Redefreiheit in Gefahr – und die liberale Streitkultur, in der jedes Argument auf seinen Wert abgeklopft wird. Anfang Juli publizierten rund 150 besorgte (und grossteils nicht cancelbare) Intellektuelle von links bis rechts, von Noam Chomsky bis George W. Bushs Redenschreiber David Frum, einen offenen «Letter on Justice and Open Debate» (mehr darüber gibts hier). Überall auf der Welt nehme der Illiberalismus zu, heisst es da. Man spiele rechten Demagogen wie Trump mit ideologisch verhärteter Dogmatik bloss in die Hände. Die gewünschte demokratische Inklusion aller Bevölkerungsgruppen fusse auf einer offenen Gesellschaft, die klar gegen Intoleranz Stellung beziehe und stets alle Seiten zu Wort kommen lasse.
Anders gesagt: Die Internet-Community verwandelt sich schnell in einen Internet-Mob. Statt sachlich zu argumentieren, stellen selbsternannte Sittenwächter starre Regeln auf und vollstrecken auch gleich das Urteil. Der Grundsatz «In dubio pro reo» ist abgeschafft. Beständig lauern Zensur und Selbstzensur. «Call-out Culture» und Cancel-Culture haben toxische Nebenwirkungen.
5. Was sind die Gegenargumente?
Nicht nur Minderheitenvertreterinnen sehen gerade in dieser Kritik die Bestätigung, dass genaues Hinschauen und unerbittliches Anprangern nottut. Da glaube eine vor allem weisse Oberschicht, sie könne das Narrativ kontrollieren und bestimmen, wer wann wo Gehör bekäme; wie Inklusion zu erreichen sei. Dieser Widerstand sei das letzte Aufbäumen der Privilegierten – denen es keineswegs zustehe, darüber zu befinden, ob ein Tweet brutal verletzend, rassistisch, transphob und untragbar sei. Dass ausgerechnet J.K. Rowling zu den Unterzeichnern des offenen Brief gehört, spreche Bände; eine Mitunterzeichnerin zog darum ihre Unterschrift zurück.
Zudem muss man in der Tat differenzieren: Cancel-Culture meint das Abbestellen von Filmen, Büchern, Musiktiteln etc. Einzelner und eben nicht das, wogegen sie sich ja meist wendet – strukturelle Diskriminierung oder gar Gewalt, wie sie etwa Afroamerikaner erfahren. Dass auf Onlineplattformen im Cancel-Kontext auch Hassreden und Drohungen vorkommen, ist nicht primär ein Problem der Cancel-Kultur, sondern eins der zu wenig kontrollierten Netz(un)kultur. Unbeantwortet ist beim Anspruch auf absolute Toleranz ausserdem die Frage nach der wehrhaften Demokratie: Soll eine tolerante Gesellschaft alles tolerieren – selbst widerliche, zerstörerische Intoleranz und Hetze? Was ist toxischer?
Fehler gefunden?Jetzt melden.