HIV und Hepatitis im Gefängnis«Ein Betroffener hatte keine Ahnung, dass er das Virus in sich trägt»
Insassen in Haftanstalten gehören zur Risikogruppe für gefährliche und ansteckende Viren. Doch jetzt stoppt der Bund ein Pilotprojekt für systematische Tests.

An diesem grauen Novembermorgen gibt es in der St. Galler Strafanstalt Saxerriet einen Neuzugang, er kommt aus einem anderen Gefängnis. Der Beamte des Betreuungs- und Sicherheitsdiensts nimmt bei dem Mann eine Leibesvisitation vor, es gibt einen Alkoholtest und eine Urinprobe. Später geht es weiter zum medizinischen Eintrittsgespräch. Dort können alle Insassen freiwillig einen Bluttest auf HIV oder Hepatitis B und C machen lassen. «Die meisten willigen ein», sagt Iva Juricic, Pflegefachfrau beim Gesundheitsdienst des Saxerriet.
Dieser Ablauf ist neu, sagt sie: «Seit April testen wir systematisch jede neue eingewiesene Person», früher erfolgte dies nur bei einem Verdacht. Das Saxerriet macht bei einem Pilotprojekt der Organisation Hepatitis Schweiz mit. Ziel des Projekts ist es, dass alle Haftanstalten systematisch testen. In den letzten Monaten hätten sie drei positive Fälle entdeckt, sagt Juricic. «Ein Betroffener war total überrascht, er hatte keine Ahnung, dass er das Virus in sich trägt.»
Nur zwei Drittel wissen von Erkrankung
Das Hepatitis-Virus wie auch das HIV-Virus werden durch infiziertes Blut übertragen, zum Beispiel über offene Wunden, Schleimhäute, Bluttransfusionen oder aber mit infiziertem Drogenbesteck oder unsterilen Nadeln beim Tätowieren. Viele der Insassen im Saxerriet gehörten einer Risikogruppe an, sagt Juricic. Auch weil einige aus Ländern kommen, wo diese Krankheiten stärker verbreitet sind als in der Schweiz.
Unentdeckt kann die hochansteckende Krankheit tödlich sein, weil sie zu schweren Leberschäden bis hin zu Leberkrebs führt. Gleichzeitig spüren Betroffene sehr lange keine Symptome, selbst wenn sie schon Krebszellen in der Leber haben. In der Schweiz leben rund 44’000 Personen mit Hepatitis B und 32’000 mit Hepatitis C. Jedoch wissen nur etwa zwei Drittel der Infizierten von ihrer Krankheit, wie Studien zeigen. Weltweit leben 257 Millionen Menschen mit Hepatitis B und 58 Millionen mit Hepatitis C.
Eine Ansteckung kann für Menschen im Umfeld der Infizierten gefährlich sein. «Wenn eine eingewiesene Person positiv ist, betrifft das viele Leute – Kinder, Lebenspartner, Familie, aber auch unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter», sagt Juricic. Im Saxerriet habe man in letzter Zeit zweimal Situationen gehabt, in denen Angestellte bei der Arbeit mit Blut kontaminiert worden seien. «Da beruhigt es sie, wenn wir Entwarnung geben können.» Eingewiesene Personen, die sich in der Abklärung befänden oder positiv getestet worden seien, würden nicht an einem Arbeitsplatz mit erhöhter Verletzungsgefahr eingesetzt, wie zum Beispiel in der Metzgerei, der Küche oder der Schlosserei, sagt Juricic.
«Wenn man Hepatitis B und C in der Schweiz eliminieren will, sind Insassen in Strafanstalten eine Schlüsselgruppe.»
Philip Bruggmann ist Professor und Chefarzt für innere Medizin am Zürcher Zentrum für Suchtmedizin (Arud). Und er ist Präsident von Hepatitis Schweiz. Für ihn gehören Gefangene zu einer der wichtigsten Risikogruppen bezüglich viraler Hepatitis. «Wenn man Hepatitis B und C in der Schweiz eliminieren will, sind Insassen in Strafanstalten eine Schlüsselgruppe», sagt er.
Im Jahr 2022 beteiligten sich 46 Haftanstalten an einer Umfrage. Es ging darum, wie sie gegen HIV und Hepatitis testen – und ob sie ihren Insassen eine Suchtberatung anbieten. Nur 18 Anstalten gaben an, dass sie systematisch Tests durchführten. Beim Rest passiert dies meistens nur bei Verdacht. «Viele Gefängnisse möchten zwar gern mehr machen», sagt Bruggmann. «Aus mangelndem Wissen und wegen knapper Ressourcen werden jedoch nur in knapp der Hälfte der Schweizer Anstalten die Insassen systematisch getestet.» Dies bedeutet, dass dort viele Menschen leben, die potenziell hochansteckend sind.

Auch in Bern denkt man über Geschlechtskrankheiten nach. An einer der kommenden Bundesratssitzungen wird die Landesregierung das «Nationale Programm gegen sexuell übertragbare Krankheiten» (NAPS) verabschieden. Neben HIV wird neu auch Hepatitis in das Programm aufgenommen. Und festgehalten, dass man die Krankheit mit besonderen Angeboten für Schlüsselgruppen bekämpfen will.
Gestrichen ist auch das Geld für das Haftanstalten-Pilotprojekt, an dem das Saxerriet teilnimmt.
Doch ausgerechnet jetzt, noch vor dem Entscheid des Bundesrats, streicht das Bundesamt für Gesundheit (BAG) die Gelder für mehrere Projekte von Hepatitis Schweiz, der einzigen Organisation, die sich für die Elimination dieser Krankheit einsetzt. Insgesamt hat Hepatitis Schweiz beim BAG für alle Hepatitis-Projekte 400’000 Franken beantragt. Bewilligt werden ab nächstem Jahr aber nur 35'000 Franken. Gestrichen ist auch das Geld für das Haftanstalten-Pilotprojekt, an dem das Saxerriet teilnimmt.
«Dieser Schritt des Bundesamtes ist äusserst unverständlich», sagt Philip Bruggmann. «Umso mehr, als der Bundesrat die Elimination von Hepatitis B und C ganz neu ins Nationale Programm gegen sexuell übertragbare Infektionen aufgenommen hat – mit ausdrücklichem Fokus auch auf Gefängnissen.»
Projekt aus formellen Gründen gestrichen
Hepatitis Schweiz hat bisher keine Begründung für den Entscheid erhalten. Auf Anfrage heisst es beim BAG lediglich: «Das Projekt wurde aus formellen Gründen abgelehnt.» Für Hepatitis Schweiz ist derzeit unklar, ob das Projekt nach einer späteren Prüfung doch noch akzeptiert werden könnte.
Noch reichen die Gelder für das Gefängnisprojekt bis Ende 2024. Institutionen, die mitmachen, werden von Spezialisten medizinisch begleitet, das Personal geschult und die Insassen an Anlässen aufgeklärt. Im Gegenzug erhält Hepatitis Schweiz Angaben zur Zahl durchgeführter Tests und Behandlungen. Der Verein entwickelt aufgrund der Erfahrungen Anleitungen, wie Hepatitis in Gefängnissen erfolgreich bekämpft werden kann. Neben dem Saxerriet haben sich bisher zehn weitere Anstalten beteiligt.

«Bei uns ist das Projekt ein grosser Erfolg, und wir erhalten auch immer wieder Anrufe von anderen Anstalten, die Interesse zeigen», sagt Juricic vom Saxerriet. «Ich bin überzeugt: Systematische Tests sollten in jedem Vollzug gemacht werden.»
Für die 49-jährige Pflegefachfrau gibt es einen weiteren Vorteil: «Wir haben zu den eingewiesenen Personen einen Zugang gefunden, den wir vorher so nicht hatten», sagt Juricic. Weil die virale Hepatitis zu den sexuell übertragbaren Krankheiten gehöre, komme es beim Testen zu sehr persönlichen, auch intimen und aufklärenden Gesprächen, sagt Juricic: «Es sind Menschen darunter, für die ist sogar das Kondom ein Tabu. Wir erfahren von ihnen viel über ihre Alltagssorgen, über ihre Beziehungen. Wir begegnen ihnen dank dem Testprojekt noch mehr auf einer menschlichen Ebene.»
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