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Hitzewelle in der Schweiz
Der Chef, der seine Bauarbeiter heimschickt

«Bei einer solchen Hitze bricht die Leistung der Leute bald zusammen», sagt Jérôme Poletti, der Patron. Darum gebe er ihnen auch früher frei.
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«Ich habe selber elf Jahre auf dem Bau gearbeitet und weiss, wie es dort manchmal tut.» Jérôme Poletti ist 45 Jahre alt und Maurer von Beruf. Sein Gesicht ist gebräunt und gegerbt, man sieht ihm die Zeit an, die er auf der Baustelle verbracht hat. Er spricht im wiegenden, breiten Waadtländer Dialekt der Region und geht bedächtig; ein ruhiger Typ.

Polettis Urgrossvater wanderte aus Italien in die Schweiz ein und gründete das Bauunternehmen, das seit über siebzig Jahren in der Gegend baut und über 15’000 Wohnhäuser und andere Gebäude errichtet hat. 1952 kam es zur Fusion mit einem Architekturbüro in Neuenburg, seither heisst die Firma Pizzera-Poletti. Sie ist mit ihren 150 Arbeitern eines der letzten KMU der Branche im Kanton Waadt. Fast alle Angestellten sind aus dem Ausland hierhergekommen, vor allem aus Portugal, Spanien und ein paar aus Italien.

Schwitzen und Trinken

Heute besucht der Chef eine Baustelle ausserhalb der Arbeiterstadt Renens im Westen von Lausanne. Der Betonboden ist bereits gegossen, Andeutungen von Wänden ragen in die Höhe. Die Männer tragen einen weissen Helm, eine leuchtend gelbe Veste und orange Hosen, als sei es nicht schon warm genug. Sie hämmern, bohren, sägen, schleifen, schrauben, vergittern und betonieren, die Mischmaschine steht auf der Baustelle. Die Leute arbeiten konzentriert und ohne Hast, einzeln oder in Gruppen. Sie schwitzen viel und trinken noch mehr. Alle kennen einander, geredet wird wenig.

Das alles hat mit den Temperaturen zu tun. Es ist erst halb zehn Uhr morgens, und schon «prägelt» die Sonne aus dem wolkenlosen Himmel herunter. Bereits hat sich die Luft auf 26 Grad erwärmt, am Nachmittag wird die Temperatur auf 34 Grad steigen. Die Rekordhitze erschwert die Arbeit, alles kommt einem vor wie in Zeitlupe.

Um drei ist Feierabend

Immerhin wissen die Angestellten: Spätestens um 15 Uhr dürfen sie heim, manchmal schon um 12, wenn die Hitze zu gross wird. Normalerweise arbeiten sie im Sommer bis um 17 Uhr. Früher anfangen als morgens um 7 Uhr können sie nicht, weil sonst die Nachbarn die Polizei rufen. Ausserdem gibt es zwei Pausen am Morgen und 45 Minuten für das Mittagessen. Sie seien froh um einen Chef, sagen sie im Gespräch, der ihnen frei gebe, wenn die Hitze nicht mehr zu ertragen sei. 

Es wird der heisseste Tag, den man hier je gemessen hat: Ein Arbeiter auf der Baustelle der Firma Pizzera-Poletti in Bussigny bei Renens.

«Ich liebe diese Arbeit», sagt Joao Antonio Mivas De Almeida. Er ist vor vielen Jahren aus dem Norden Portugals in die Schweiz gekommen und hat sich zum Vorarbeiter hochgearbeitet, ein stattlicher, kahler Mann, tief gebräunt. Was liebt er an dieser Arbeit besonders? «Beton, Beton, Beton», sagt er und verzieht keine Miene. Hier sei vor vier Jahren Unkraut gewachsen, erklärt er dann. Inzwischen hätten er und seine Kollegen vor Ort mehrere Häuser hochgezogen, manchmal fahre er mit seiner Familie hierher und zeige, wo er überall mitgebaut habe. «Jede Baustelle, jedes Haus ist anders, die Arbeit bleibt interessant, weil sie dauernd Abwechslungen bietet.» 

Seit vier Jahren arbeitet De Almeida bei Pizzera-Poletti. Was brachte ihn in diese Firma? Die familiäre Atmosphäre, sagt er, der Umgang mit den Angestellten. Der Vorarbeiter trägt seinen Namen auf dem Helm wie alle hier. Auch darauf legt die Firma wert, damit man die Leute ansprechen kann, damit sie nicht anonym bleiben.

Ausgeruht statt ausgelaugt

Den Arbeitern mögen die Pausen und der freie Nachmittag gefallen, ihr Chef wirkt sympathisch mit seiner Empathie, auch tritt er unkompliziert auf und geht auf die Leute zu. Aber geht seine Rechnung auf? Was kosten ihn die Ausfälle, die sich aus diesen heissen Tagen ergeben? Die Konkurrenz ist hart, und lange nicht alle Baufirmen reagieren auf Hitzetage.

Erstaunlicherweise argumentiert Jérôme Poletti nicht nur gesundheitlich, sondern auch unternehmerisch: «Bei einer solchen Hitze bricht die Leistung der Leute bald zusammen», sagt er. Die Männer seien am Nachmittag dermassen erschöpft, dass sie nur noch langsam arbeiten könnten und man ihnen die Anstrengung am nächsten Morgen anmerke. Wie viel die Pausen sein Unternehmen genau kosten würden, könne er nicht sagen. «Aber weil meine Leute besser ausgeruht und schon deshalb motivierter sind, zahlen wir für die Ausfälle weit weniger, als wir befürchtet haben.»

Hier entstehen immer neue Wohnhäuser für immer mehr Menschen – unter erträglichen Arbeitsbedingungen.

Schön sind die Bauten nicht, die hier entstehen. Aber es ist auch keine sonderlich schöne Gegend, sondern eine Industriezone als Folge eines unkontrollierten Wachstums im Westen von Lausanne. Autobahnen, Schnellstrassen und Geleise zerschneiden das Land. Fabrikgebäude ragen hoch, Aluminiumbauten, Tankstellen, Reifen- und Abfalllager, Karosseriespenglereien, Sportplätze, Hochleitungsmasten, Baumaschinen, Silos, Stacheldrahtverhaue und Brücken, darunter Rinnsale und müdes Gras. Die ganze Gegend hat sich zu einem Baugeflecht metastasiert. Mit Urbanistik, also umsichtiger Planung, hat das wenig zu tun.

Alle Wohnungen sind vermietet

Dass er mit seiner Baufirma zur Betonisierung der Landschaft beiträgt, ist Jérôme Poletti natürlich klar. Aber er sieht auch die Wohnungsnot in Lausanne und Umgebung, sie ist beinahe so gross wie in Zürich. Auch die Häuser, die er hier hat bauen lassen, wurden sofort vermietet, obwohl ihre Lage nicht attraktiv ist. Wer die Waadt von den Ufern des Lac Léman kennt, die sanft ansteigenden Reben, die alten Dörfer, der glitzernde See davor und auf der anderen Seite die französischen Alpen, wäre schockiert, zu sehen, wie diese Industriezone aussieht mit ihrem Beton, Asphalt und Metall.

Und doch wird überall weitergebaut, entstehen immer neue Wohnhäuser für immer mehr Menschen. Immerhin entstehen sie unter erträglichen Arbeitsbedingungen. Das sei lange nicht bei allen Baufirmen der Fall, sagt Nico Lutz, der bei der Gewerkschaft Unia unter anderem für die Baubranche zuständig ist. Während die Baufirmen und lokalen Baumeisterverbände in den lateinischen Kantonen sensibler auf die Hitze reagierten, sei das in der deutschen Schweiz weniger der Fall. «Leider haben wir mit dem Baumeisterverband keine schweizerische Lösung gefunden.»

Das wäre aber dringend nötig, sagt Lutz, weil die Firmen einem enormen Termindruck ausgesetzt seien, zum Beispiel bei Baustellen der SBB. Dabei käme es bei einer Baustelle von drei Monaten nicht auf ein paar Tage an. «Würden für alle klare Regeln gelten, könnten sich die Firmen darauf einstellen.» In jedem Fall gehe die Gesundheit der Bauarbeiter vor. 

Der heisseste Tag seit Beginn der Messungen

Der Schweizerische Baumeisterverband (SBV) lässt diese pauschale Kritik der Unia nicht gelten. Erstens habe der Gesamtarbeitsvertrag von SBV und Gewerkschaften das Verhalten bei Natureinflüssen bereits geregelt, sagt Sprecher Pascal Gysel. Zweitens würden Bauarbeiter gerade bei heissen Tagen so früh als möglich anfangen und entsprechend früher aufhören. Das sei aber nicht immer möglich, weil sich vor allem in den Städten Nachbarn über den Lärm beklagten. Drittens hinge der Umgang mit der Hitze auf dem Bau weder von der Grösse der Firma noch ihrem Bauherrn ab. Und sowieso: Wann und wie lange jemand auf dem Bau arbeite, versuche seine Branche selbst zu regeln – «bevor wir, wenn überhaupt, auf eine staatliche Ebene gehen».  

Am Morgen nach diesem Dienstag können die Arbeiter in der Zeitung lesen, dass sie den heissesten Tag durchlebt haben, den man in Lausanne seit Beginn der Messungen je registriert hat. Dank der Pausen und des frühen Feierabends konnten sie auch diesen überstehen.