Munition für die Ukraine«Hier geht es um den Kern des Neutralitätsrechts»
Soll die Schweiz Deutschland erlauben, Schweizer Munition an die Ukraine zu liefern? Laut Völkerrechtsprofessor Marco Sassòli von der Universität Genf ist das keine reine Ermessensfrage.
Die deutsche Verteidigungsministerin bittet die Schweiz um Erlaubnis, Schweizer Munition an die Ukraine liefern zu dürfen. Bisher hat die Schweiz das aus Neutralitätsgründen abgelehnt. Handelt es sich um eine Ermessensfrage oder war die Absage neutralitätsrechtlich zwingend?
Neutralitätsrechtlich ist es ein Grenzfall. Das internationale Neutralitätsrecht verpflichtet die Schweiz, keine Waffen in ein kriegführendes Land zu liefern. Doch die Schweiz ist nicht verpflichtet, zu verhindern, dass ein anderes Land Schweizer Munition weitergibt. Allerdings hat sie von Deutschland eine Nicht-Wiederausfuhrerklärung verlangt. Wenn die Schweiz diese jetzt aufhebt, damit eine Kriegspartei wie die Ukraine Waffen erhält, umgeht sie das Neutralitätsrecht. Denn hier geht es um den Kern des Neutralitätsrechts. Im Schweizer Recht – dem Kriegsmaterialexportrecht – ist der Fall ohnehin klar: Die Bewilligung darf in einem solchen Fall nicht erteilt werden.
Was spricht dagegen, dass sich der Bundesrat auf die Wahrung der Landesinteressen beruft und auf Notrecht zurückgreift, um die Munitionslieferung zu ermöglichen?
Für das Notrecht braucht es eine Notlage. Ich sehe nicht, worin diese für die Schweiz bestünde. Übrigens auch nicht für die Ukraine: Die 12’000 Schuss Munition aus der Schweiz machen kaum den entscheidenden Unterschied.
«Man kann ohnehin nicht kontrollieren, was mit der Munition vor Ort genau geschieht.»
Im Parlament steht zur Diskussion, das Gesetz zu ändern und bestimmten Ländern künftig die Weitergabe von Waffen nicht mehr zu untersagen.
Ja, die Schweiz könnte künftig darauf verzichten, Nicht-Wiederausfuhrerklärungen zu verlangen. Es fragt sich aber, ob das neutralitätspolitisch klug wäre. Die Nicht-Wiederausfuhrerklärungen sind etwas Sinnvolles. Ohne sie würden Schweizer Waffen in sämtliche Kriege gelangen. Nur von bestimmten Ländern Erklärungen zu verlangen und von anderen nicht, ist delikat, solange die Schweiz nicht EU-Mitglied ist. Es könnte zum Beispiel dazu führen, dass Indien keine Schweizer Waffen an Saudiarabien liefern dürfte, die im Jemen-Krieg eingesetzt werden, Grossbritannien aber schon.
Die deutsche Verteidigungsministerin bringt ein neues Argument vor: Die Munition würde dazu dienen, Getreideexporte aus der Ukraine zu schützen. Diese seien wichtig, um Hungersnöte in den Ländern des Südens zu verhindern. Ändert das etwas?
Nein, das ist kein stichhaltiges Argument. Man kann ohnehin nicht kontrollieren, was mit der Munition vor Ort genau geschieht. Ausserdem wird das Getreide über Bahnlinien angeliefert, die auch als Nachschublinien der ukrainischen Streitkräfte dienen.
Sieht die Rüstungsindustrie in der aktuellen Situation eine Gelegenheit, auf eine Lockerung der Schweizer Regeln zu Kriegsmaterialexporten hinzuwirken?
Das kann ich nicht beurteilen. Aber man muss gut überlegen, ob man Gesetze wegen eines Einzelfalls ändern will, gewissermassen im Affekt. Es könnte zu unerwünschten Konsequenzen führen.
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