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Puzzlen am Cern 
Happy Birthday, Higgs-Teilchen

Aufnahme einer Kollision von Protonen am Cern, bei der vier hochenergetische Elektronen beobachtet werden (grün und rot). Das Bild von 2011 war einer der Hinweise auf die Existenz des Higgs-Bosons, des sogenannten «Gottesteilchens».
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Geburtstagsgeschenke für Minderjährige sind ja öfter etwas überambitioniert, so manches Buch der Weltliteratur landet ungelesen im Regal, weil der Beschenkte sich weigert, etwas anderes als ein Handy in die Hand zu nehmen. Praktischerweise hat das Higgs-Teilchen, das vergangene Woche seinen zehnten Geburtstag feierte, weder ein Handy noch kann es lesen. Damit ist die Fachzeitschrift «Nature», die dem Elementarteilchen zum Jahrestag seiner Entdeckung drei Überblicksartikel spendierte, vermutlich auf der sicheren Seite, viel falsch macht man da nicht.

Zehn Jahre nach der Entdeckung ist jedenfalls kein schlechter Zeitpunkt, um zurückzuschauen – und nach vorne. Zumal der Entdecker des Higgs-Teilchens, der milliardenteure, technisch nahezu konkurrenzlose Teilchenbeschleuniger Large Hadron Collider (LHC), der am europäischen Forschungszentrum Cern bei Genf steht, soeben seine dritte Messperiode gestartet hat. Ist das Higgs – manche nennen es etwas überzogen «Gottesteilchen» – nun eine stete Quelle neuer, spannender Einblicke, wie es seine Fans darstellen? Oder als bislang einzige grössere Entdeckung des LHC nur eine herbe Enttäuschung, wie es Kritiker sehen?

Mit der Entdeckung des Higgs-Teilchens, die am 4. Juli 2012 unter grossem internationalem Applaus verkündet wurde, war das «Standardmodell der Teilchenphysik» komplett. Es war das letzte Puzzleteil, das in der Theorie noch fehlte, und zugleich ein zentraler Teil dieser Theorie. Das Higgs-Feld, das mit dem gleichnamigen Teilchen untrennbar verbunden ist, umgibt uns alle wie ein unsichtbarer Äther. Erst durch die Wechselwirkung mit diesem Feld erhalten die anderen Elementarteilchen ihre Masse.

Ein Albtraum schien wahr zu werden

Zugleich aber schien sich mit der Entdeckung des Higgs ein Albtraum zu bestätigen. Denn dass sich das Higgs früher oder später zeigen würde, galt als praktisch sicher. Weil das Standardmodell experimentell so gut bestätigt war, erschien es äusserst unwahrscheinlich, dass ein so zentraler Bestandteil wie das Higgs einfach ein Irrtum sein sollte (umso spannender wäre es gewesen, wenn es so gekommen wäre).

Eigentlich hatte man sich vom LHC aber vor allem Hinweise auf neue Physik erhofft, die über das Standardmodell hinausgeht. Schliesslich lässt dieses noch viele Fragen offen: Woraus bestehen die dunkle Materie und die dunkle Energie, die das All erfüllen? Warum sind die Massen der Elementarteilchen nicht ganz anders? Warum gibt es so viel mehr Materie als Antimaterie? Und wie kann man die Gravitation in die Teilchenphysik integrieren? Das Higgs-Teilchen, das nur zeigt, wo das Standardmodell recht hat, aber daneben nicht den ersehnten Hinweis liefert, wo das Modell irrt: Bei diesem Szenario des Stillstands lief es vielen Physikern kalt den Rücken hinunter.

Grösse ist relativ: Mit dem «New Small Wheel» wurde der Atlas-Detektor am LHC verbessert.

Aber manchmal dauert es eben. «Ein bisschen enttäuscht war ich schon, dass wir mit dem LHC nicht gleich etwas ganz Neues gefunden haben», sagt Sandra Kortner vom Max-Planck-Institut für Physik in München, die ein Projekt am Atlas-Detektor des LHC leitet. «Aber die Vernunft sagt: Vielleicht brauchen wir einfach noch mehr Daten. Ich bin optimistisch, wir haben noch viel zu tun.»

Es ist auch nicht so, dass die Arbeit der vergangenen zehn Jahre vergebens gewesen wäre. «Das Higgs-Teilchen ist einzigartig», sagt Kortner. Seit es sich damals erstmals zeigte, wurde es aus allen Richtungen in seinen Wechselwirkungen vermessen, dabei haben die Physiker viel gelernt, und vieles ist noch offen. Für Kortner bleibt das auch das Spannendste für die dritte LHC-Messrunde, die nach dem monatelangen Hochfahren und Einstellen des Beschleunigers am Dienstag beginnt. «Wir werden weitere Zerfälle des Higgs in leichtere Teilchen beobachten können und auch besser verstehen, wie zwei Higgs-Teilchen miteinander wechselwirken», sagt Kortner.

«Sie stehen vor einer Wüste, und sie wissen nicht, wie gross sie ist.»

Marvin Marshak, University of Minnesota (USA)

Andere sind weniger optimistisch, was die Chancen auf Fortschritte angeht. «Sie stehen vor einer Wüste, und sie wissen nicht, wie gross sie ist», sagte etwa der Physiker Marvin Marshak von der University of Minnesota dem Fachmagazin «Science». Immerhin: In den kommenden vier Jahren wird der LHC mit etwas höherer Energie arbeiten als bislang, mit 13,6 Teraelektronenvolt (TeV) ist er jetzt recht nah an seiner Leistungsgrenze von 14 TeV. Nach dieser Messrunde soll ein weiteres grosses Upgrade zum sogenannten «High Luminosity LHC» folgen, nach dem sich vor allem die Zahl der Teilchenkollisionen noch einmal vervielfachen soll.

Schon für die dritte Messperiode aber wurden drei Jahre lang die Beschleuniger und vor allem die riesigen Detektoren optimiert. Wenn im 27 Kilometer langen Ringtunnel des LHC nun wieder Protonen mit nahezu Lichtgeschwindigkeit zirkulieren, aufeinanderprallen und in quantenmechanischen Prozessen in unzählige Trümmer zerfallen, können die Detektoren jetzt mehr Daten aus diesen Kollisionen sammeln und sie besser verarbeiten als je zuvor.

«Es wäre die Entdeckung einer neuen Naturkraft und könnte unser Verständnis des Universums grundlegend verändern.»

Nico Serra, Universität Zürich

Das könnte ganz neue Entdeckungen mit sich bringen. Schon in den bislang gesammelten Daten gab es diverse Auffälligkeiten. Zum Beispiel scheint sich in den seltenen Zerfällen sogenannter B-Mesonen neue Physik zu offenbaren. B-Mesonen sind Teilchen aus zwei verschiedenen Quarks, den elementaren Bausteinen eines Atomkerns. «Wenn sich das bestätigt, wäre es die grösste Entdeckung in der Teilchenphysik innerhalb der letzten Jahrzehnte», sagt Nico Serra von der Universität Zürich, der an Messungen mit dem Detektor Namens LHCb beteiligt ist. «Es wäre die Entdeckung einer neuen Naturkraft und könnte unser Verständnis des Universums grundlegend verändern.»

Vielleicht stellen sich diese Messungen der B-Mesonen, wie manch andere Messungen, die auf Abweichungen vom Standardmodell der Teilchenphysik hindeuten, als Zufälle heraus. Aber es ist gut möglich, dass sich die eine oder andere in zäher, ermüdender Detailarbeit bestätigt. «Ich habe zehn Jahre lang an der Masse des W-Bosons gemessen», sagt Matthias Schott von der Universität Mainz, der auch am LHC forscht. «Aber man muss eben dranbleiben. Messungen im Präzisionsbereich sind genauso spannend und spektakulär wie Ergebnisse, die sich sofort zeigen.»

Hat das Higgs-Boson Geschwister?

Auch aus den bisher gesammelten Daten ist noch längst nicht alles herausgeholt. «Wir arbeiten inzwischen viel mit tiefen neuronalen Netzwerken, mit deren Hilfe man Unregelmässigkeiten in den Daten sehr gut erkennen kann», sagt Schott. Ein fundamental neuer, noch ziemlich junger Ansatz seien auch die sogenannten effektiven Feldtheorien. Statt jede neue, exotische Theorie einzeln zu testen, wird dabei geschaut, zu welchen Zutaten neuer Theorien die Daten passen könnten. «So können wir sehen, in welcher Richtung wir weitersuchen müssen», sagt Schott.

Auch über das Higgs-Feld selbst gibt es noch einiges zu lernen, etwa, wie genau seine potenzielle Energie sich verhält. Möglicherweise gibt es auch noch Geschwister des Higgs-Teilchens zu entdecken, manche Theorien sagen mehrere Higgse voraus. «Was immer wir in den kommenden Jahrzehnten entdecken, wir werden dazulernen», schreibt ein Team um Giulia Zanderighi in der Geburtstagsausgabe von «Nature». Entweder indem man Belege für noch unklare Teile des Standardmodells finde. «Oder indem wir ein Fenster zu neuen Horizonten und den Geheimnissen des Universums öffnen.» Ganz ohne Pathos geht es dann doch nicht.