Essay zu ItalienGiorgia Meloni geht einen riskanten Milliardenpoker ein
Mario Draghi hatte sein marodes Land auf einen kühnen Zukunftskurs eingeschworen. Die Rechtsregierung drängt nun Italien zurück in die wirtschafts- und finanzpolitische Vergangenheit.
Ach, Italien. Kein Land in Europa steht in so vieler Hinsicht mit dem Rücken zur Wand. Kein Land müsste sich in einem grossen Befreiungsschlag so radikal modernisieren, wenn es als Wohlstandsnation eine Zukunft haben will. Kein Land stellt zugleich eine so gefährliche wirtschaftliche Bedrohung für Europa dar. Und bei keinem Land sind die EU-Partner darum bereit, ihm mit so viel Geld und Entgegenkommen unter die Arme zu greifen.
Trotz alledem: Nach dem Rechtsruck im vergangenen Herbst hat Italien den Weg in die entgegengesetzte Richtung eingeschlagen. Es eilt zurück in die Vergangenheit.
Rückwärtsgewandte Finanz- und Industriepolitik
Giorgia Meloni brachte vor acht Monaten in Rom die am weitesten rechts stehende Regierung in Europa an die Macht. Ihr schneidiges Debüt stellt eine Zäsur dar. Ihr Vorgänger Mario Draghi hatte das marode Land in einer kurzen Ära des Sturm und Drangs auf einen kühnen Zukunftskurs eingeschworen. Italien erlebte 2021 ein grosses Comeback. Nach anderthalb Jahren war der Schwung aber wieder weg. Melonis rechtspopulistische Dreierkoalition verschanzt sich in Nostalgie und Traditionskult.
Rückwärtsgewandt wie ihre Gott-Vaterland-Familie-Doktrin sind auch die «Melonomics»: In der Finanzpolitik, der Industriepolitik, der Agrarpolitik – überall werden die Uhren zurückgedreht. Lösen lässt sich so keines der drängenden Probleme. Im Gegenteil: Der Rückzug in die alte Welt verschärft die Risiken Italiens. Und damit diejenigen Europas.
Das Ausland nimmt davon kaum Notiz. Giorgia Meloni hat seit ihrem Amtsantritt oft Gelegenheiten verpasst, ihre ideologischen Wurzeln im italienischen Faschismus zu durchtrennen. Gleichzeitig beruhigte sie aber viele Beobachter damit, die europäischen Haushaltsregeln zu erfüllen und die Ukraine bedingungslos zu unterstützen.
Italien ist für die wirtschaftliche Zeitenwende schlecht gerüstet
Dies sollte jedoch die berechtigten Fragen nicht verdrängen: Ist Roms Rechtsregierung wirklich so harmlos, wie es den Anschein hat? Wäre es klüger, ihrer potenziellen Gefährlichkeit ins Auge zu sehen? Was bedeutet der Rückschritt im mediterranen Krisenland für dessen Nachbarn?
Die Fakten des Italien-Dramas sind bekannt. Italien hat die höchste Staatsverschuldung Europas sowie zugleich die niedrigste Geburtenrate und den stärksten Bevölkerungsschwund unter den EU-Ländern. Diese Kombination ist per se ein finanzpolitischer Albtraum. Der Anteil der Hochschulabsolventen ist nur in Rumänien niedriger. Um ihre Arbeitsplätze besetzen zu können, ist Italiens Wirtschaft dringend auf Zuwanderer angewiesen. Meloni kämpft aber dafür, ihr Land vor Flüchtlingen abzuschotten.
Überhaupt ist Italien für die weltweite wirtschaftliche Zeitenwende mit beschämend niedrigen Staatsausgaben für Bildung und Innovation, einem schwerfälligen Staatsapparat und einer schwachen Wettbewerbskultur schlecht gerüstet. Von 21 italienischen Regionen seien 13 in den Teufelskreis von Abwanderung, niedrigem Bildungsniveau und geringen Investitionen abgerutscht, warnt die EU-Kommission.
Draghis Ministerium für den digitalen Wandel? Abgeschafft. Die Erforschung nachhaltiger Fleischalternativen aus dem Labor? Verboten.
Kurzum: Italien hat besonders schlechte Karten für die Zukunft. Aber es zeigt auch, dass sich mit Traditionalismus und der Verneinung der Gefahren wunderbar Wahlen gewinnen lassen.
Beispiel Staatsfinanzen. 90 Milliarden Euro Steuerhinterziehung im Jahr führen dazu, dass Italien nicht aus der Schuldenfalle kommt. Melonis jüngste Äusserung zu dem Massenphänomen: «Der Kampf gegen die Steuerhinterziehung wird nicht beim kleinen Gewerbetreibenden geführt, dem der Staat den Pizzo (Schutzgeld) abknöpft.» Gesagt hat sie das auf Sizilien, wo der Widerstand gegen die Schutzgeldmafia Leben kostet.
Beispiel Innovationsfeindlichkeit. Draghis Ministerium für den digitalen Wandel? Abgeschafft. Die Erforschung nachhaltiger Fleischalternativen aus dem Labor? Verboten. Die Benutzung von Fremdwörtern? Soll mit Bussgeldern bestraft werden.
Meloni macht fast alles rückgängig, was Draghi eingeführt hat
Die Erinnerung an Draghi, den man im Februar 2021 in grosser Not aus dem Ruhestand gerufen hatte, wurde in Rom schnell ausgewischt. Der ehemalige Chef der Europäischen Zentralbank hatte seinem Land einen Perspektivwechsel aufgezwungen. «Denkt vor allem an das Leben der Jugend, der Frauen und der Nachgeborenen», hatte er im Parlament gemahnt. Der Fixstern seines Handelns war die Zukunft.
Draghis Mission war es, Europas Problemland nach 25 Jahren Stillstand von seinen Wachstumsfesseln zu befreien und einen Umbau der italienischen Wirtschaft anzustossen. Der parteilose Premier wollte die 191-Milliarden-Euro-Hilfen aus dem europäischen Wiederaufbaufonds verwenden, um Italien aus der Erstarrung zu lösen und von Grund auf umzugestalten. Er erhob das zu einer Schicksalsfrage. Meloni hatte dem Reform- und Investitionsplan in der Opposition die Zustimmung verweigert. Nun verwirft sie ihn.
Kaum war die Rechte an der Macht, hat sie das Zukunftsprogramm abgewürgt. Vor elf Monaten, als die Regierung Draghis stürzte, galt das als unvorstellbar. Genau so ist es aber gekommen.
Italien ist mit wichtigen Zukunftsprojekten im Verzug
Unter Draghi kassierte Italien die ersten 67 Milliarden Euro aus Brüssel. Eigentlich sollte Ende Februar die dritte Rate eintreffen. Doch weil Rom nicht alle 55 Etappenziele des Plans erreicht hat, hält die EU-Kommission das Geld zurück. Ende April versprach Finanzminister Giancarlo Giorgetti, die Auszahlung sei nur eine Frage von Stunden. Verstrichen sind seither rund 1300 Stunden. Es klafft weiterhin eine Lücke von 19 Milliarden Euro in seiner Kasse, der Umbau stockt.
Unterdessen rennt der Regierung die Zeit davon. Ende Juni läuft die nächste Frist für die Auszahlung der vierten Rate über 16 Milliarden Euro ab. Diesmal ist Italien mit 27 zu erreichenden Planzielen noch ärger im Verzug. Die grössten Rückstände weisen die Projekte für die Wasserstoff-Infrastruktur, die Ladesäulen für Elektroautos und für den Ausbau von Kindertagesstätten auf.
Um in der Kinderbetreuung aufzuholen, stellt der EU-Fonds 4,6 Milliarden Euro zur Verfügung. Mit dem Geld soll die Regierung 264’000 Plätze schaffen. Das entspräche einer Verdoppelung des Angebots. Die Investition soll helfen, drei Probleme anzugehen: Italien weist die niedrigste Geburtenrate, die niedrigste Frauenerwerbsquote und auch deswegen strukturell das niedrigste Wirtschaftswachstum Europas auf. Das Vorhaben droht daran zu scheitern, dass die Gemeinden zu wenig Anträge eingereicht haben. Und die Regierung keinen Finger rührt.
Auf Italien kommt ein ernstes Konjunktur- und Schuldenrisiko zu
Es ist paradox: Täglich zieht die Rechte verbal gegen den «demografischen Winter» in Italien zu Feld, fördert aber systematisch dessen Ursachen. Sie strich die von Draghi eingeführten Kreditgarantien, die jungen Paaren den Kauf einer Wohnung und die Gründung einer Familie erleichtern sollten. Sie machte es Unternehmen noch leichter, befristete Arbeitsverträge abzuschliessen. Dabei steht der hohe Anteil prekärer Jobs, mit denen vor allem die jüngeren Generationen vorliebnehmen müssen, dem Wunsch nach Nachwuchs am nachhaltigsten entgegen.
Draghi schaute nach vorn, Meloni guckt in den Rückspiegel. Auf Kosten der Zukunft.
Die Regierung nimmt einer betrogenen Generation, die für die Schulden ihrer Vorfahren aufkommen muss, jetzt die historische Modernisierungschance ihres Landes weg. Bei der Umsetzung des Wiederaufbauprogramms hat sie nicht gepatzt, sie hat den Plan, bisher jedenfalls, sabotiert.
Dabei birgt ein Scheitern ein ernstes Konjunktur- und Schuldenrisiko. Die Hälfte des erwarteten Wirtschaftswachstums hängt in den kommenden vier Jahren davon ab, dass der Reformplan pünktlich realisiert wird. Bis 2030 stehen insgesamt 10 bis 12 Prozent der Wirtschaftskraft auf dem Spiel.
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