Ukrainische Autorin im Interview«Gewalt ist der zweite Name Russlands»
Tanja Maljartschuk erzählt, wie der Krieg sie in einen Ausnahmezustand versetzt hat. Die 40-jährige Schriftstellerin will die Perspektive der Ukraine sichtbarer machen. Bei einem Auftritt kürzlich in Zürich habe sie weinen müssen.
Frau Maljartschuk, kurz nach Russlands Grossangriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 haben Sie in einem Interview gesagt, dass Sie 80 Stunden nicht geschlafen hätten. Wie schlafen Sie heute?
Wie ein Stein, wie eine Person, die schon gestorben ist. Im Schlaf kann ich mich ein bisschen vom Krieg erholen. Ich träume fast von gar nichts mehr. Wenn es doch passiert, träume ich von der Welt, die verloren gegangen ist, von einer Zeit, in der man schreiben und sich noch verlieben konnte. Das Gefühl der Sicherheit ist weg, ebenso das Vertrauen in die Welt. Wie wohl alle Menschen in der Ukraine kenne ich Leute, die im Krieg gefallen sind.
Hilft Ihnen die Literatur, mit den Schrecken des Kriegs besser zurechtzukommen?
Was aus mir als Schriftstellerin wird, weiss ich nicht, solange der Krieg andauert. Ich erlebe einen ständigen Cocktail an Emotionen. Man ist froh, nicht verrückt zu werden – das ist schon mal gut. Was mir tatsächlich hilft, ist die Lektüre von Schriftstellern, die die Balkan-Kriege erlebt haben, zum Beispiel vom kürzlich verstorbenen Dzevad Karahasan aus Sarajevo. Von ihm stammt der Satz: «Krieg ist ein Loch in der Existenz» – das trifft es sehr gut. Auch wenn der Krieg zu einem Ende kommt, müssen Jahre vergehen, bevor man dieses Loch in sich wieder mit Wörtern stopfen kann.
Sie leben seit über zehn Jahren in Wien. Wie schauen Sie auf die Geschehnisse in Ihrer Heimat?
Der Krieg verfolgt mich immer – in meinem Handy. Am häufigsten schaue ich auf die Website der Luftalarmkarte. Wenn die Ukraine-Karte ganz rot ist, zittern meine Hände, immer noch, auch nach 15 Monaten Krieg. Das ist ein Wahnsinn, der zum Alltag gehört. An einige Dinge des Krieges gewöhnt man sich, an andere nicht. Man kann immer noch schockiert sein. Zum Beispiel die Zeugnisse von Menschen, die tagelang in Kellern gefangen und misshandelt wurden – man kann sie kaum zu Ende lesen. Vergewaltigungen als Kriegswaffe, das ist unfassbar schrecklich.
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Was beschäftigt Sie am meisten?
Ich bin in ständiger Sorge – vor allem um meine Eltern, die ihre Heimat nicht verlassen wollen, aber auch um Freundinnen und Freunde, Bekannte und Schriftstellerkolleginnen und -kollegen. Meine Eltern, beide um die 70, leben in Iwano-Frankiwsk im Westen der Ukraine. Es ist aber nirgendwo hundert Prozent sicher. Kürzlich schlugen russische Raketen in Ternopil ein, das nicht weit entfernt ist von Iwano-Frankiwsk. Ich bewundere den Mut der Menschen, die in der Ukraine geblieben sind.
Wie sehen Sie Ihre Rolle als ukrainische Intellektuelle? Sind Sie eine Botschafterin der Ukraine, die im Westen ihr Land erklären muss?
Vor dem Krieg sah ich mich – aufgrund meiner Migrationserfahrung – als eine Person, die auf einer Brücke zwischen zwei Welten, zwei Kulturen lebt. Inzwischen habe ich begriffen, dass es diese Brücke gar nicht gibt. Sie muss erst noch gebaut werden. Ich will nun mithelfen, eine Brücke des gegenseitigen Verständnisses aufzubauen. Im deutschsprachigen Raum halte ich viele Lesungen ab, allein im letzten Jahr war ich 144 Tage unterwegs. Manchmal nehme ich an solchen Diskussionsveranstaltungen teil, wo es gar nicht mehr um die Literatur geht. Und es kostet extrem viel Energie. In den Gesellschaften des Westens gibt es immer noch viele falsche oder gar keine Vorstellungen über die Ukraine.
Zum Beispiel?
Die demokratischen Fortschritte in der Ukraine nach der Maidan-Revolution wurden nicht wahrgenommen. Man hat die Bedrohung der Ukraine durch Russland nicht sehen wollen. Es ist immer so: Die Stimme der Unterdrückten und der Opfer hört man nicht gerne. Bis sie verstummen. Ich weiss, dass der Gang der Geschichte ausserhalb der Gerechtigkeit steht. Diesen hegelianischen Satz hat Iwan Franko, ein ukrainischer, nicht ins Deutsche übersetzter Autor, noch am Ende des 19. Jahrhunderts gern zitiert. Trotzdem möchte ich zu denjenigen gehören, die an die Gerechtigkeit glauben und für die Gerechtigkeit mit allen möglichen Mitteln kämpfen. Es sind keine leeren Worte für mich.
«Leute, die noch nie mit Ukrainern gesprochen haben, sind oft positiv überrascht, wenn sie mit mir geredet haben.»
Welches Ziel verfolgen Sie mit Ihren Auftritten?
Mir ist es sehr wichtig, die ukrainische Perspektive und die ukrainische Kultur im deutschsprachigen Raum sichtbarer zu machen. Dabei möchte ich niemanden belehren. Ich erzähle nur und hoffe, dass die Menschen im Westen von sich aus beginnen, sich mit der Ukraine und der ganzen osteuropäischen Region auseinanderzusetzen. So wie es war, war es falsch und hat unter anderem diesen Krieg ermöglicht. Ausserdem – und bitte nicht lachen – möchte ich zeigen, dass die Ukrainerinnen und Ukrainer ganz normale Menschen sind. Wir sind keine Nazis oder Barbaren, wie das von der russischen Propaganda behauptet wird. Leute, die noch nie mit Menschen aus der Ukraine gesprochen haben, sind oft positiv überrascht, wenn sie mit mir geredet haben. Das ist eine bittere Erfahrung.
Kommt es vor, dass Sie bei Ihren Auftritten angefeindet werden?
Das passiert gelegentlich in Deutschland, wo unter anderem wegen der Waffenlieferungen stärker polarisierte Debatten geführt werden als anderswo. Ein sogenannter Friedensaktivist hat mir in Ulm Prügel angedroht. Bei einer Lesung in Aachen ist ein betrunkener Russe auf mich zugekommen und hat mich als Nazi beschimpft. Für diese Möglichkeit hat er immerhin den Eintritt bezahlt, was ich schon mal gut finde. Und stellen Sie sich vor: Nur einmal, und zwar neulich in Zürich, wurde mir gesagt: Danke, dass ihr für uns kämpft. Ich musste weinen.
Was sagen Sie den Leuten, die der Ansicht sind, dass die Ukraine historisch sowieso zu Russland gehört oder dass die Maidan-Revolution von 2014 ein Putsch der Amerikaner war?
Mit solchen Leuten spreche ich nicht mehr. Sie haben sich in ihrer Welt eingekapselt, die aus Angst und Ignoranz besteht. Etwas anderes zu hören, sind sie nicht bereit. Sie verdrehen die Realität und sehen mich als Feind, der ihren Alltag bedroht, und nicht den Aggressor selbst, der sich mit anderen Autokraten gut versteht und alles unterdrückt, was frei leben möchte, inklusive seiner eigenen Bevölkerung.
«Hass ist die Nahrung Russlands. Je mehr Russland von anderen gehasst wird, desto grösser wird das russische Ungeheuer.»
Nach der Maidan-Revolution haben Sie den Essay «Ein Brief an den Bruder» geschrieben, Adressat war Russland. Er endet mit dem Satz «Russland, ich liebe dich» …
… das war natürlich sarkastisch gemeint. Hass ist die Nahrung Russlands. Je mehr Russland von anderen gehasst wird, desto grösser wird das russische Ungeheuer. Ich aber wollte schlauer sein – und nicht hassen.
Und jetzt: Hassen Sie Russland?
Hass ist eine Kombination von Wut und Hilflosigkeit. Man hasst, wenn man gescheitert ist. Ich bin oft wütend, aber ich hasse nicht. Wie kann man Russland als Imperium hassen? Die als Selbstverteidigung dargestellten Angriffskriege sind seine Natur. Russland als Imperium ist gefährlich – das war schon immer so. Gewalt ist der zweite Name Russlands. Wenn man überleben will, muss man kämpfen.
Die Ukraine verbindet eine jahrhundertelange leidvolle Geschichte mit Russland. Sie war immer wieder Schauplatz von Gewalt und Tod. Was machen die vielen schrecklichen Ereignisse mit einem Volk?
Jede ukrainische Generation hat ein Trauma wegen Russland respektive der Sowjetunion. Meine Grossmutter zum Beispiel hat Stalins Holodomor nur knapp überlebt, während sie alle Familienangehörigen verlor. Meine Eltern durchlebten die Repressionen des Breschnew- und Andropow-Regimes. Als Kinder lernten wir in der Schule Lieder und Gedichte, in denen es um Gewalt, Tod und Bedrohung durch Moskau ging. Kaum ein Schriftsteller in der Geschichte der Ukraine ist eines natürlichen Todes gestorben. Solche Erfahrungen werden von einer zur nächsten Generation weitergetragen.
Mit welchen Folgen?
Man wird ängstlich, taten- und verantwortungslos. Selbst nicht heilig, klagt man über die anderen, man ist kindlich … So sind die Opfer. Und genau darum geht es in diesem Krieg auch: die Rolle des Opfers abzugeben und den Kreislauf der Moskauer Gewalt zu durchbrechen. Solche Begriffe wie Mut, Verantwortung und Erwachsenwerden erfindet man in der Ukraine wieder neu.
Woher kommt der Mut zum entschlossenen Kampf gegen das Kreml-Regime?
Menschen wie ich, die in der Endphase der Sowjetunion geboren wurden, sind danach in einem unzulänglichen, aber freien ukrainischen Staat aufgewachsen. Man hat zwar noch russisches Fernsehen geschaut, aber vor allem die jüngeren Menschen hatten im alltäglichen Leben immer weniger mit Russland zu tun. Die Menschen in der Ukraine haben die Erfahrung gemacht, dass es sich lohnt, für ihre Überzeugungen zu demonstrieren und zu kämpfen. 2004 war es die Orangene Revolution, zehn Jahre später der Euro-Maidan, der den Weg zu einem modernen, europäischen Land endgültig eingeschlagen und die Bildung einer starken Zivilgesellschaft abgeschlossen hat. Dies wiederum erklärt die grosse Widerstandskraft der Ukraine im heutigen Krieg gegen Moskau.
«Es gibt unendlich viel Hoffnung, nur nicht für uns. Aber vielleicht für diejenigen, die nach uns kommen.»
Was hören Sie aus der Ukraine vor der grossen Gegenoffensive?
Die Menschen glauben an die ukrainischen Streitkräfte. Und sie tun alles, um sie zu unterstützen. In der Bevölkerung freut man sich nicht auf die bevorstehende Offensive. Vielmehr herrschen Angst und Sorge vor, weil man weiss, dass noch mehr ukrainische Soldaten und Soldatinnen sterben werden.
Die Selenski-Regierung will alle von Russland besetzten Gebiete der Ukraine zurückerobern, inklusive der Krim. Was meinen Sie dazu?
Es geht nicht um Territorien in diesem Krieg. Auf dem Spiel steht die Existenz der Ukraine. Russland will den ukrainischen Staat von der Landkarte tilgen und die ukrainische Identität auslöschen. Die Ukraine hat schon einen sehr hohen Preis mit Menschenleben bezahlt. Es sterben ihre besten Leute, auch ihre Elite aus Wissenschaft und Kultur, während Moskau Sträflinge und Verrückte an die Front schickt. Und nach alldem einen scheinbaren Frieden zu schliessen, der in einem Jahr einen weiteren Krieg bedeutet, ist für die ukrainische Gesellschaft keine Option mehr.
Wie gross sind Ihre Hoffnungen, dass der Krieg bald mit einem für die Ukraine möglichst vorteilhaften Ergebnis zu Ende geht?
Ich formuliere Franz Kafka um: Es gibt unendlich viel Hoffnung, nur nicht für uns. Aber vielleicht für diejenigen, die nach uns kommen.
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