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TV-Kritik Tour de France
Fünf Stunden fernsehen – herrlich!

Zeit für Land und Leute, Kultur und Kulinarik: Irgendwo auf der 8. Etappe zwischen Libourne und Limoges.
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«Birgit?» Manchmal dauert es ein paar Sekunden, bis sie aus dem Off erklingt; in der TV-Übertragung ist es die Totale im Bild, die den Auftakt zu ihrem Beitrag markiert: über die Grossgrundbesitzer der Ile de Vassivière – das «petit Canada» Europas! – oder die Papiermühlen in der Nouvelle-Aquitaine, die – wie gut zu wissen! – früher das Papier für die Pariser Gazetten lieferten, die über die Faulheit ebendieser Randregionen wetterten.

Wenn die Reporter von Eurosport während der Tour de France nach ihrer Kollegin Birgit Hasselbusch verlangen, weitet sich der Blick des Publikums, weg vom Hinterrad des Ausreissers hin zu Land und Leuten, Kultur und Kulinarik. Hasselbusch ist Journalistin, Autorin, Reporterin. Zwei Jahre hat sie aus Frankreich berichtet, sie kennt das Land und bringt es der deutschsprachigen Zuschauerschaft auf Eurosport von einer Seite näher, die man auf dem Spartensender nicht erwarten würde. Doch genau das entspricht dem Konzept.

Die Lücke nach dem Doping-Schock

Die Tour de France ist der grösste jährlich stattfindende Sportanlass der Welt: 20 Millionen Zuschauer auf der Strasse, weltweit über eine Milliarde am Bildschirm. Seit einigen Jahren sind die Einschaltquoten wieder im Steigen begriffen, der Radsport hat sich von den Doping-Skandalen der späten 90er einigermassen erholt, zumindest wird das so verkauft: auf Netflix in einer Serie von heldenhaft-epischem Draufgängertum, in Fachgazetten als Lifestyle für die neuen Velo-Hipster aus den Städten, die mit tätowiertem Zweirad auf der Wade.

Doch weder bei der ARD noch auf SRF werden die Tour-Etappen aktuell in ihren ganzen vier bis fünf Stunden Länge gezeigt, die öffentlich-rechtlichen Sender schalten sich in der Regel für die letzten beiden Stunden dazu. ARD und ZDF haben nach dem Doping-Schock zwischenzeitlich ganz auf die Tour verzichtet, SRF hat seinen Aufwand rund um die Tour bis heute massiv zurückgebaut. Diese Lücke schliesst Eurosport. Die Hintergrundinformationen mit der abdetachierten «Kulturredaktorin» Hasselbusch begleiten die stundenlangen Etappen.

Mit dem Blick weitet sich auch der Sinn: Eine Kirche während der Tour-de-France-Übertragung auf Eurosport.

Das hatten einst auch die Öffentlich-Rechtlichen vor. In den 90ern fesselte der Schweizer Radrennfahrer Alex Zülle die Schweiz in den Juli-Wochen an den Bildschirm. 1995 wurde er hinter dem spanischen Überfahrer Miguel Indurain Zweiter, Tony Rominger Siebter, die beiden Landsmänner in der Weltspitze animierten das Fernsehen zu längeren Sendungen. Dann blies der Doping-Skandal die ganze Euphorie weg.

Der Doping-Skandal blies die ganze Euphorie weg: Alex Zülle an der Tour de Suisse mit dem damaligen Bundesrat Kaspar Villiger.

Die Deutschen hatten Jan Ullrich, 1997 gewann er die Tour, und was «Ulle» machte, das verfolgten via ARD zu den besten Zeiten drei Millionen Zuschauer pro Etappe. Auch Ullrich wurde des Dopings überführt. Die Tour im Besonderen und der Radsport im Allgemeinen verschwanden aus dem TV-Programm.

Seit 2012 sitzt man bei Eurosport wieder über die volle Etappenlänge im Sattel. So lange live zu sein, ist selbst in der etwas trägeren Welt des linearen Fernsehens ein Sonderfall. Die Regie in Frankreich liefert die immergleiche Bildrotation von den Motorrädern, aus den Helikoptern, dazu ein bisschen was vom Streckenrand. Aber als Liveprodukt bleibt Radsport eine anspruchsvolle Angelegenheit mit einer schwierig zu vermittelnden Dramaturgie: Erst geschieht stundenlang nichts, dann alles auf einmal.

Birgit Hasselbusch erzählt vom Ziegenkäse bei Rocamadour, den Äpfeln aus der Région de la Creuse und dem Rindfleisch aus dem Limousin.

Und so ist die aufzoomende Totale aus dem Helikopter, bei der das Peloton irgendwann zu einem kleinen Mückenschwarm am Bildrand wird, eine Wohltat für das Livepublikum, weil sich mit dem Blick auch der Sinn weitet. Birgit Hasselbusch erzählt jetzt vom Ziegenkäse bei Rocamadour, den Äpfeln aus der Région de la Creuse und dem Rindfleisch aus dem Limousin. Es geht gegen das Zvieri zu.

Kühe in Mayenne, während das Peloton von 2023 am Bildrand vorbeizieht.

Reblochon im Emmental

Die Tour de France am Bildschirm zu verfolgen, ist eine herrlich sinnlose Sommerbeschäftigung, eine Wiederentdeckung sowohl der Langsamkeit als auch der Einsamkeit, eine Art Umkehr des überschwänglich kollektiven Public-Viewing-Gedankens, wie er etwa beim Fussball zelebriert wird. Man kann diesem anachronistischen Zeitvertreib überall nachgehen, wahlweise öffentlich oder privat, am Handybildschirm im Freibad, sitzend im kühlen Treppenhaus, nur mit dem Knopf im Ohr auf dem Velo, wo Hasselbuschs Fachreferat über den Reblochon verwirrt, wenn man gleichzeitig durchs Emmental pedaliert.

«Merken wir uns» ist schon als begeisternder Ausruf zu verstehen, manchmal heisst es auch «zurück zum Sport» oder schlicht: «interessant».

Man kann später ein- und früher aussteigen, die Männer auf ihren Rädern rollen, Hasselbusch erzählt, ab und zu kommt Werbung, aber nie wirklich lange. Eine Tour de France am Fernsehen ist wie eine ewige Flachetappe, sie trifft den «sweet spot» zwischen Mittagsschlaf und Sportspektakel, Reiselust und Kultur-Gwunder. Die Bilder mit den Wäldern und Äckern, Burgen und Schlössern erinnern an Swissview, die Kameraflüge übers Land, die SRF zu einer Zeit zeigte, in der der Reiz des Blicks von oben mangels Youtube und Gopro noch bedeutend grösser war.

Am 3. Juli war die Tour de France in der Biskaya in Spanien.

Wunderbar banal sind jeweils die Reaktionen der beiden Hauptmoderatoren, wenn Birgit nach ihren Exkursen an sie zurückgibt. «Merken wir uns» ist schon als begeisternder Ausruf zu verstehen, manchmal heisst es auch «zurück zum Sport» oder schlicht: «interessant». Aber bald darauf zeigt die Regie wieder eine Burg. «Birgit?»

Tour de France 2023, die Etappen starten täglich zwischen 13 und 14 Uhr, jeweils live auf Eurosport.