Fragen an Hans Ulrich ObristSind Graffiti eine eigene Kunstgattung?
Harald Naegeli und nun Renée Levi zeigen, dass sich Graffiti-Kunst nicht auf Protest reduzieren lässt.
Eine eigene Gattung nicht, aber eine eigene Ausdrucksform. Bekannt sind Graffiti vor allem aus der sogenannten Streetart. Damit bezeichnet man Werke, die von Künstlerinnen und Künstlern im oder für den öffentlichen Raum geschaffen wurden, häufig ohne Genehmigung. Deshalb haftet der Graffiti-Kunst auch etwas Subversives an, ein Protest gegen die Verhältnisse und auch gegen die etablierten Institutionen der Kunst, da die Ausstellungsflächen von Graffiti oft Hausfassaden, Brücken oder U-Bahnen sind, aber eher keine Museumswände.
Der Schweizer Harald Naegeli etwa, einer der europäischen Vorreiter der Graffiti-Kunst, sprach davon, dass er seine charakteristischen, von der Linie beseelten Graffiti explizit als Antwort auf den Rationalismus und die Kälte der städtischen Architektur konzipiert hatte.
Graffiti-Kunst lässt sich aber nicht auf Protest reduzieren, wie sich übrigens auch das grossartige Werk Naegelis nicht nur auf seine Graffiti beschränkt.
Ebenso charakteristisch ist das In- und Miteinander von Schrift und Bild, das Aufgehen von Zeichen in Form. Wie lebendig und vielgestaltig die aktuelle Graffiti-Kunst ist, lässt sich derzeit sehr gut in Paris sehen.
Im dortigen Palais de Tokyo hat die Schweizer Künstlerin Renée Levi die Eingangshalle gerade mit zwei riesigen Bildern bestückt. Eines der beiden ist auf das Glas aufgetragen, durch welches das Licht in die grosse Lobby fällt. Das andere ist eine grandiose Studie der gesprayten Linie.
Mit dem breiten, weichen Strich aus der Flasche hat Levi sehr reduzierte Schwünge und Linien auf den Untergrund gesprüht, die flüchtig sind und sich nicht festmachen lassen – mal wirken sie wie Ornamente, mal wie dreidimensionale Schleifen, mal wie Buchstaben.
Auf die Frage, was Graffiti-Kunst für sie bedeute, sagte sie mir, dass es viel mit der Direktheit zu tun habe, mit der die Farbe auf den Untergrund aufgetragen wird. Das Malen mit Sprühfarbe habe eine Unmittelbarkeit und Konzentration wie die jahrtausendealte Freskomalerei, bei der die Farbe schnell und direkt auf den nassen Putz aufgebracht wird.
Diese Schnelligkeit der Kunst hängt wiederum mit ihrer politischen Bedeutung zusammen, dem Widerstand, dem illegalen Akt, der rasch und heimlich geschehen muss. Dieser Dimension der Streetart habe ich an der diesjährigen Art Basel Paris eine Diskussion gewidmet, unter anderem mit dem New Yorker Graffiti-Pionier Futura 2000. Alles völlig legal.
Die Ausstellung: palaisdetokyo.com/personne/renee-levi
Res Strehle: Nur fliegen kann er nicht. Harald Naegeli. Eine Biografie. Diogenes, 2024.
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