Tragödie in der Formel 1Ein heftiger Knall – und das Lachen des jungen Mannes ist für immer verstummt
Vor zehn Jahren verunfallt Jules Bianchi in Japan so schwer, dass er später verstirbt. Sein Tod rettet anderen das Leben.
- Jules Bianchi verunfallte trotz gelber Flagge bei hoher Geschwindigkeit.
- Seine Familie verklagte die FIA wegen vermeintlicher Versäumnisse.
- Seither gibt es Innovationen, die die Formel 1 sicherer machten.
Es ist ein trüber Tag in Suzuka. Ausläufer des Taifuns Phanfone, der über Japan tobt, fegen über die Rennstrecke, es regnet in Strömen, es ist dunkel – und es wird immer noch düsterer.
Der Formel-1-Grand-Prix läuft dennoch, als wäre nichts. Vollgas in der Gischt. Adrian Sutil rast auf die Kurve 7 zu, der deutsche Pilot des Schweizer Sauber-Teams. Er verliert die Kontrolle, rutscht rückwärts über das Gras und schlägt in die Streckenbegrenzung ein. Es ist eine heikle Stelle, doch die Rennleitung verzichtet auf den Einsatz des Safety-Cars. Stattdessen werden gelbe Flaggen geschwenkt.
Eine Runde später steht bereits das Bergungsfahrzeug da, Helfer befestigen den Sauber an dessen Haken. Der Abschleppwagen fährt rückwärts, er kommt vielleicht zehn Meter weit, dann kracht es. Auf manchen Handy-Aufnahmen von Zuschauern ist später zu sehen, wie ein Rennauto, einem Geschoss gleich, in das Heck des gelben Fahrzeugs donnert. Trotz seiner 6,8 Tonnen hebt dieses ab und wird um eineinhalb Meter verschoben – Sutils Bolide fällt vom Haken. Vom Marussia, der herangebraust kam, ist nichts mehr zu sehen. Vom Mann, der ihn gefahren hat, erst recht nichts. Sie stecken in der weissen Streckenbegrenzung, das Auto demoliert, der Fahrer schwer verletzt.
Im Cockpit sitzt Jules Bianchi, 25-jähriger Franzose, im Fahrerlager oft mit einem Lachen unterwegs, ein Mann mit Zukunft. Am Morgen jenes 5. Oktober 2014 hat er einen Vertrag bei Sauber unterschrieben. Das Team aus Hinwil hätte eine Zwischenstation sein sollen auf seinem Weg zum grossen Ferrari. Es kommt nie so weit.
Bianchi wird an der Unfallstelle versorgt und später ins nahe Universität-Mie-Spital geflogen. Dort wird er operiert und ins künstliche Koma versetzt, die Motorsportwelt bangt um eines ihrer grössten Talente. Am 17. Juli 2015, über neun Monate nach dem verheerenden Abflug, erliegt Bianchi im Spital daheim in Nizza seinen Verletzungen.
Bianchi ist der erste Unfalltote in der Formel 1 seit dem schrecklichen Wochenende von Imola 1994, als der Österreicher Roland Ratzenberger und Überfigur Ayrton Senna ihr Leben in den Begrenzungsmauern liessen.
Unfassbare 254 G wirkten gegen Bianchis Kopf
Bis zu jenem Tag im Juli 2015, der die Welt des Motorsports von neuem erschüttert, sind schon einige Details an die Öffentlichkeit geraten. Mit 213 km/h war der Franzose unterwegs bei der Gefahrenstelle, er schlug mit 126 km/h in das Bergungsfahrzeug ein, es wirkten Kräfte von 58,8 G, auf seinen Kopf gar unvorstellbare 254 G, das 254-Fache seines Körpergewichts. Trotzdem war Bianchi erst noch bei Bewusstsein, und doch ist es ein Kampf, den er nicht gewinnen kann. Seine Startnummer 17 wird in der Formel 1 nie mehr vergeben.
Es gibt Schuldzuweisungen von allen Seiten. Es sollen Funksprüche existieren, die belegen, dass Bianchi vom Marussia-Team dazu aufgefordert wurde, das Tempo hochzuhalten, den Bedingungen und gelben Flaggen zum Trotz. Er ist zu diesem Zeitpunkt im Duell mit Marcus Ericsson im Caterham. Es geht um Rang 16 – die Zahl steht dafür, wie unnötig dieser Unfall war. Im Zweikampf verliert Bianchi die Kontrolle. Der Rennstall weist die Vorwürfe als unhaltbar zurück.
In den Fokus geraten auch Bernie Ecclestone als Chef der Formel 1 und der Automobilweltverband FIA. Sie hätten ein Rennen bei unfahrbaren Verhältnissen durchgeboxt, heisst es von vielen Seiten. Williams-Pilot Felipe Massa sagt: «Man hätte das Rennen später starten und früher abbrechen müssen. Ich schrie in den Funk, dass man abbrechen soll, weil die Strecke viel zu nass war.»
Adrian Sutil, dessen Sauber vom Haken fiel, als Bianchi in den Abschleppwagen donnerte, sagt: «Es wurde immer dunkler, ich konnte die Pfützen mit mehr Wasser nicht mehr richtig erkennen. Deshalb drehte ich mich. Jeder weiss, dass diese Kurve eine der schwierigsten ist, speziell wenn es spät wird und der Regen zunimmt. Wenn es dort also einen Unfall gibt, sollte über den Einsatz des Safety-Cars nachgedacht werden. Vielleicht hätte man auch das Rennen früher beenden sollen, aber unsere Meinung war nicht gefragt.»
Der Anwalt sagt: «Jules Bianchis Unfall war vermeidbar»
Die FIA reagiert mit einem Bericht, in dem sie vor allem dem Piloten selbst die Schuld gibt, weil er nicht genügend verlangsamt habe. Das wiederum will die Familie Bianchi nicht hinnehmen, allen voran Vater Philippe nicht. Im Mai 2016 verklagen die Bianchis die FIA, die Formula One Group (FOM), die die TV-Rechte besitzt, sowie das Team Marussia. Anwalt Julian Chamberlayne sagt: «Jules Bianchis Tod war vermeidbar.» Und: «Es war für die Familie überraschend und erschütternd, dass die FIA zum Schluss kam, dass Jules verantwortlich ist.»
Doch zum Prozess kommt es nie, einige Fragen sind bis heute unbeantwortet. Die Familie Bianchi hat in den letzten Jahren versucht, damit umzugehen. Und sie fand in gewissen Situationen auch die Chance zur Versöhnung mit ihrem einst so geliebten Sport. Etwa beim heftigen Unfall von Zhou Guanyu beim GP von Grossbritannien 2022.
Der Chinese wird zu Beginn des Rennens von einem anderen Auto getroffen, seinen Alfa Romeo dreht es. Kopfüber und mit über 200 km/h schlittert Zhou danach über den Asphalt, dreht sich im Kreis, das Auto hebt kurz vor der Streckenbegrenzung ab, kreist in der Luft und kracht in den Sicherheitszaun. Und Zhou? Steigt unverletzt aus.
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Viele Experten sind sich einig: Ein paar Jahre zuvor hätte er das nicht überlebt. Philippe Bianchi meldet sich und sagt: «Zhous gerettetes Leben ist das Positive an Jules’ Tragödie.»
Das Drama um seinen Sohn war Hauptauslöser dafür, dass der Halo, zu Deutsch Heiligenschein, in die Formel 1 kam – und das trotz heftiger Gegenwehr von namhaften Piloten und Teamchefs. Der Titanbügel prangt seit 2018 vor dem Cockpit der Rennfahrer und schützt deren Köpfe. Ohne den Halo wäre Zhous Kopf direkt auf dem Asphalt geschlittert, die Folgen wären verheerend gewesen. Bianchis Schicksal aber hätte ein solcher Bügel kaum verhindert, zu heftig war der Aufprall.
Hingegen wäre der Franzose heute wohl noch am Leben, hätte es damals schon den virtuellen Safety-Car gegeben. Dieser wurde bereits in der Folgesaison 2015 eingeführt. Geschieht ein Unfall an kritischer Stelle wie in Suzuka, muss seither nicht mehr auf den echten Sicherheitswagen gewartet werden, der das Rennen neutralisiert. Dann leuchten auf den Tafeln rund um die Strecke die Buchstaben VSC auf und darf in den Sektoren eine gewisse Zeit nicht mehr unterschritten werden, das Tempo wird also deutlich gedrosselt.
Jules Bianchi hat mit seinem Tod wohl schon manche Tragödie verhindert. Es ist sein Vermächtnis. Und das, was seiner Familie zumindest etwas Trost spendet.
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