Interview mit Migrationsforscher«Es sollte Integrationskurse für Schweizer geben»
Soziologe Ganga Jey Aratnam über die Begrenzungsinitiative – und weshalb sich
die Einwanderung in die Schweiz nicht mehr stoppen lässt.
In Sri Lanka war er Leichtathletik-Rekordhalter über 800 und 1500 Meter. Auch jetzt ist Ganga Jey Aratnam noch blitzschnell – vor allem im Denken. Der Soziologe, der seit 25 Jahren in der Schweiz lebt, hat sämtliche Zahlen und Fakten zur Einwanderung in die Schweiz auf Abruf bereit. Stets elegant gekleidet, erweist er sich im Gespräch als humorvoller und intelligenter Debattierer, der auch die Schattenseiten der Migration klar benennt. Schliesslich kennt er die Thematik nicht nur aus der Theorie, sondern auch aus eigener Erfahrung.
Wenn Sie im Ausland die Migration in der Schweiz erklären, was sagen Sie?
Dass die Schweiz das vielfältigste Land Europas ist – abgesehen von Luxemburg, das bevölkerungsmässig nicht mal halb so gross ist wie der Kanton Zürich. Ich würde aber auch erwähnen, dass die Schweiz mit dieser Vielfalt vergleichsweise gut umgeht, dass es erstaunlich wenig Probleme gibt.
In der Schweiz gibt es keine Ghettos wie in Frankreich, keine brennenden Asylbewerberheime wie in Ostdeutschland. Und das trotz über einer Million Einwanderer allein innerhalb der letzten fünfzehn Jahre. Wie kommt das?
Der Föderalismus hilft, gerade im Asylbereich. Die Asylsuchenden werden per Zufallsprinzip auf die Kantone verteilt. Sie können nicht sagen: «Mein Onkel wohnt im Kanton Thurgau, ich will auch dahin.» Das ergibt eine Streuung, was eine Ghettoisierung verhindert und die Vielfalt fördert. Es sah aber nicht immer so gut aus wie jetzt.
Was meinen Sie?
In den späten 1980er- und frühen 1990er-Jahren gab es in der Schweiz mehrere fremdenfeindlich motivierte Anschläge und Morde. Damals waren noch die Schweizer Demokraten (SD) im Parlament, eine Partei, die offen gegen Flüchtlinge polemisierte. Die Boulevardzeitung «Blick» führte eine Kampagne gegen Tamilen. Das ging aber vorbei. Wer sich in der Schweiz gegen die Vielfalt ausspricht, hat in der Regel höchstens kurzfristig Erfolg. Selbst ein Christoph Blocher bot 1994 Hand für die Entstehung des Antirassismusgesetzes.
Nicht überall wird die Schweiz so positiv wahrgenommen.
Tatsächlich glauben im Ausland viele Leute, Rassismus sei in der Schweiz weitverbreitet und erschwere das Leben der Migrantinnen. Oft wird die Annahme der Minarettinitiative als Beleg erwähnt. Ich muss dann erklären, dass die Minarette in der Schweiz für die Glaubensausübung kaum relevant sind. Vielmehr ging es hier um einen islamfeindlichen Diskurs. Die Abstimmung hatte eine gewisse Ventilfunktion. Durch diese Volksbegehren werden Probleme angesprochen und politische Debatten durchgeführt, die andernorts unterdrückt werden und dann in Gewalt münden. Auch die Begrenzungsinitiative hat die Funktion, um Dampf abzulassen. Aber auch sie wird die Zuwanderung faktisch nicht bremsen.
Die Kündigung der Personenfreizügigkeit wäre wirkungslos?
Wir haben nach dem Zweiten Weltkrieg den Weg der Migration gewählt und erlangten damit Wohlstand. Es wäre auch ein anderer Weg möglich gewesen, Japan zum Beispiel hat ohne Migration sehr viel Wohlstand erreicht. Das wollte die Schweiz aber nicht. Man muss wissen: Der helvetische Weg der Migration ist eine Einbahnstrasse, es gibt kein Zurück.
Ein Zurück nicht, aber bremsen könnte man die Migration ja schon.
Nein. Ich nehme als Beispiel die Schwarzenbach-Initiative von 1970, die die Zuwanderung ebenfalls bremsen wollte. Selbst einige SP-Kantonalparteien und Gewerkschafter unterstützten das Begehren, um die einheimischen Arbeiter zu schützen. Trotzdem wurde die Initiative abgelehnt. Zwar kam die Kontingentierung, aber Familiennachzug und Niederlassungen nahmen zu. Ist die Vielfalt einmal erreicht, kann man sie nicht mehr stoppen.
Gehen wir davon aus, die Initiative wird trotzdem angenommen. Wird sie dann einfach nicht umgesetzt, so wie die Masseneinwanderungsinitiative?
Die Einwanderung lässt sich auch mit neuen Gesetzen nicht mehr bremsen. Dem stehen Menschenrechte, die Einbindung in Europa und unsere Wirtschaftsstruktur entgegen. Heute sind wir zu stark vernetzt und eingebunden.
Können Sie das erklären?
Man kann steuern, aber nur bedingt. In über der Hälfte der Heiraten in der Schweiz hat mittlerweile mindestens eine Brautperson keinen Schweizer Pass. Die Ehe ist ein Grundrecht, daraus entsteht Immigration. Die Migrantinnen kriegen Kinder – im Durchschnitt mehr als Schweizerinnen. Hinzu kommen der Flüchtlingsstatus, der Familiennachzug und all die Arbeitskräfte, die die Schweizer Wirtschaft auch in Zukunft aus dem Ausland anzieht. Die Hypervielfalt ist eine soziale Tatsache. Über den Umgang damit lässt sich diskutieren.
Australien oder Kanada sind beides Einwanderungsländer mit strikten Migrationsgesetzen. Wäre das ein Weg für die Schweiz?
Einwanderungsländer setzen die Schraube bei den Flüchtlingen an. In der Schweiz ist es ähnlich. Vor der Asylzuwanderung, in den 1950er-Jahren, hatten wir noch das Saisonnierstatut. Die Italiener kamen für die Arbeit in die Schweiz, durften die Familien nicht mitnehmen und mussten nach getaner Arbeit das Land wieder verlassen. Das geht seit 1964 zum Glück nicht mehr. Wer hier arbeitet, darf die Familie nachziehen und bleiben. Seit den 1990ern setzt die Schweiz vermehrt auf die Zuwanderung von Hochqualifizierten. Der Bedarf an Niedrigqualifizierten wird nicht offen formuliert. Die Schweizer Fleischproduktion basiert weitgehend auf portugiesischer Zuwanderung.
Bei gewissen Ausländergruppen funktioniert die Integration in den Arbeitsmarkt sehr gut, bei anderen fast gar nicht. Gegen 90 Prozent der Asylbewerber beziehen Sozialhilfe, die Mehrheit der Eritreer arbeitet auch nach Jahren in der Schweiz nicht.
Das ist ein grosses Problem. Mit der Vorlehre hat man endlich gewisse Fortschritte gemacht. Es sind aber weitere Anstrengungen nötig. Die Schweiz braucht auch Nicht-Hochqualifizierte, gerade im Dienstleistungssektor, zum Beispiel in der Pflege oder in der Gastronomie. Früher hat man diese Menschen mit grossem Aufwand aus dem Ausland geholt, heute liefert ein Teil des Asylbereichs diese Leute, aufgrund ihrer Lage. Hier liegt erhebliches Potenzial brach.
Weshalb funktioniert die Integration in den Arbeitsmarkt in diesem Bereich so schlecht?
Einerseits müsste man mehr in die Ausbildung für Erwachsene investieren. Andererseits setzt das System falsche Anreize. Asylsuchende dürfen anfangs nicht arbeiten, sie haben also keine andere Wahl, als Sozialhilfe zu beziehen. Da wieder rauszukommen, ist schwierig. Vor allem kinderreiche Asylsuchende erreichen durch Arbeit nie dasselbe Einkommen, wie sie über die Sozialhilfe beziehen. Unser Sozialsystem ist noch immer auf die Schweizer Kleinfamilie ausgerichtet, wir brauchen migrationstaugliche Lösungen.
Zum Beispiel?
Etwas Druck ist manchmal nicht schlecht. In der Schweiz hat man diesbezüglich aber oft Hemmungen, man will ja niemanden brüskieren. Ich kenne den Fall einer Frau, der das Migrationsamt mit der Ausweisung drohte, weil sie zu lange Sozialhilfe bezog. Die Frau legte in der Folge ihr Kopftuch ab und fand in Kürze einen Job – nachdem sie jahrelang keine Erwerbstätigkeit gehabt hatte. Es ist wichtig, dass man solche Probleme offen ausspricht, aber nicht nur gegenüber den Migrantinnen. Auch Wirtschaft und Politik sind in der Pflicht. Es braucht vermehrt Berufslehren für Erwachsene. Und es geht nicht, dass jemand mit Kopftuch keinen Job kriegt.
Wo sehen Sie die grössten Tabus?
Viele Leute etwa aus dem Kosovo, der Türkei oder Sri Lanka können sich nur eine Ehe mit einer Person aus demselben Kulturkreis vorstellen. Stellen Sie sich vor, ein Schweizer Vater sagt seiner Tochter: «Ich will nicht, dass du einen Dunkelhäutigen heiratest.» Das ist ein klarer Fall von Rassismus. Wenn ein Albaner sagt, man solle nur Albaner heiraten, so ist das genauso rassistisch! Das muss man klar benennen. Dasselbe gilt für die erschreckend weitverbreitete Homophobie auch bei gewissen Migrantengruppen.
Weshalb haben wir Mühe, in solchen Fragen Klartext zu sprechen?
Die Schweiz hat zwar vier Sprachregionen, man lebt seit je aber viel mehr nebeneinander als miteinander: Im Westen trennt uns der Röstigraben, im Süden der Polentagraben. Die Regionen lassen einander in Ruhe, das klappte jahrzehntelang sehr gut. Nun aber gibt es plötzlich viel mehr Kulturen, und zwar nicht neben uns, sondern mitten unter uns. Das Sich-in-Ruhe-Lassen geht nun nicht mehr. Zum Glück!
Bei Kindern unter sechs Jahren sind die Migranten in der Schweiz bereits in der Mehrheit. Kann ein solches Land seine ursprüngliche Kultur bewahren? Hat es das überhaupt schon irgendwo gegeben?
Gewisse arabische Länder wie Katar oder die Vereinigten Arabischen Emirate haben einen noch grösseren Migrationsanteil. Dort leben Eingewanderte und Einheimische aber völlig getrennt. Die integrative Situation in der Schweiz ist schon ziemlich einzigartig, wenn wir von den klassischen Einwanderungsländern absehen.
Was bedeutet das für die Kultur, die Traditionen?
Die Schweiz sollte die Hypervielfalt als ihre Kultur ansehen. Darauf kann sie auch stolz sein! Die Schweizer Kultur geht nicht verloren, sie entwickelt sich. Der Sozialvertrag des 21. Jahrhunderts ist die Anerkennung der Vielfalt.
Können Sie nachvollziehen, dass dies einige Alteingesessene überfordert?
Ja, klar. Deshalb finde ich, dass es Integrationskurse für Einheimische geben soll. Wir haben ja bereits Integrationskurse für Zugewanderte. Das ist auch gut so. Für Einheimische sind solche Kurse aber auch nötig, denn sie werden langsam zu einer Minderheit.
Die Schweizer sollen sich den Ausländern anpassen? Das dürfte für viele ein Affront sein!
Es geht mir nicht darum, die Alteingesessenen zu provozieren, sondern ihnen eine Hilfeleistung zu bieten. Wenn zum Beispiel eine ältere Person Mühe mit Ausländerinnen hat und dann in ein Altersheim kommt, wird sie ihren ganzen Lebensabend frustriert sein. Denn im Altersheim arbeiten 90 Prozent Menschen mit Migrationshintergrund. Es ist also in ihrem Interesse, einen Zugang zu diesen Leuten zu finden. Wenn sich die Einheimischen nicht anpassen, werden sie zu Verlierern im eigenen Land.
Eine Eigenheit der Schweiz besteht darin, dass Ausländer in den sozial untersten Schichten überproportional präsent sind, aber auch in der obersten, bei den Millionären und Managern.
Die Schweizer befinden sich in einer Sandwichposition. Dass das Topmanagement der grossen Firmen fast nur noch mit Ausländern besetzt ist, ist ein eher neues Phänomen. In Kaderstellen sind Schweizer im eigenen Land benachteiligt, auch wegen des Bildungssystems. Durch die tiefe Gymnasialquote gelten in der Schweiz viel weniger Leute als hoch qualifiziert als in anderen Ländern. Also holt man für solche Stellen Ausländer, obschon Schweizerinnen ohne Matura vielleicht ebenso gut wären. Da entsteht eine gewisse Frustration. Manchmal wird das thematisiert, zum Beispiel wenn über den «deutschen Filz» an Schweizer Unis die Rede ist. Meistens aber richtet sich der Frust gegen die unteren Schichten.
Wie sehr ist die Migration, wie wir sie hier erleben, ein globales Phänomen?
Gar nicht. Vor Jahrzehnten hatten Soziologinnen und Volkswirtschaftler die Vision, dass die zunehmende Mobilität zu grosser, globaler Migration führen wird. Dies ist nicht eingetreten. 2019 lebten weltweit nur 3,5 Prozent der Menschen in einem anderen Land, als sie geboren sind. Hierzulande sind es 30 Prozent. In vielen Weltgegenden ist die Migration praktisch irrelevant.
Sie selber kamen 1995 im Alter von 23 Jahren aus Sri Lanka in die Schweiz. Sie waren Sozialmediziner. Wie gestaltete sich Ihr Anfang hier?
Ich hatte keine Möglichkeit, als Sozialmediziner zu praktizieren. Also habe ich hier nochmals zu studieren begonnen und an der Universität Basel in Soziologie promoviert. Dass ich in der Schweiz geblieben bin, ist hauptsächlich der Liebe zu verdanken. Hier habe ich meine Partnerin kennen gelernt, eine Zentralschweizerin.
Was war der wichtigste Faktor für die gelungene Integration?
Sich als Hochqualifizierter zu integrieren, ist einfach. Ich habe innerhalb von drei Monaten Deutsch gelernt, verstand auch rasch Schweizerdeutsch, sogar Walliserdeutsch. Anfangs war ich selber irritiert über meine guten Noten an der Uni. Als ich bei der ersten Philosophieprüfung gleich eine Sechs hatte, ging ich zum Professor und fragte ihn, ob dies nun der Migrantenbonus sei.
Und?
Er hat verneint. Ich bin mir aber immer noch nicht sicher, ob er ehrlich war... Den Master und die Dissertation habe ich dann trotz sprachlicher Defizite mit der Bestnote abgeschlossen. Diese Ressourcenorientierung ist bei Niedrigqualifizierten selten. Dort zählen Defizite mehr. Das sollte sich ändern.
Die aktuelle Rassismusdebatte berührt Sie also nicht?
Ich engagiere mich gegen Rassismus. Meine eigenen Erfahrungen beschränken sich aber auf eine gewisse Alienisierung, dass man mich stets als Fremden wahrnimmt. Vor allem, weil ich zwar Schweizerdeutsch verstehe, aber nicht spreche. Dies schafft immer eine gewisse Distanz. Das stört mich nicht gross. Mich stört vielmehr, dass die Schweiz ihre Hypervielfalt nicht einfach unverkrampft feiert.
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