Biografie über Giulia Steingruber«Es ist schwierig zu akzeptieren. Desirée fehlt mir jeden Tag»
Die einstige Spitzenturnerin hat viel gewonnen – aber auch mit einem Schicksalsschlag leben gelernt. Ihre Biografie beleuchtet beides. Ein exklusiver Auszug.
Traurig und still sitzt sie vor ihrem Kaffee. Hört Bénédicte Plüss reden, ihre Gastmutter und WG-Kollegin, ist aber abwesend und nimmt nicht alles wahr, was diese sagt. Die beiden sitzen im Café Brésil beim Bahnhof Biel. Bénédicte oder «Bene», seit vielen Jahren ihre mütterliche Freundin, hat sie in Magglingen abgeholt und hinunter nach Biel gefahren. Jetzt wartet Giulia auf den Zug, der sie heimbringt nach Gossau.
Es ist der 10. Februar 2017. Ein Freitag. Am Morgen ist ihre Schwester Desirée gestorben.
Seit sie acht Jahre zuvor volljährig geworden war, lebte Desirée in einem betreuten Wohnheim, doch an der emotionalen Nähe der beiden Schwestern hat das nichts geändert. Auch Giulia ging längst im Elternhaus nur noch als Wochenendaufenthalterin ein und aus. Aber war sie in Magglingen, da sehnte sie sich danach, ihre grosse Schwester zu sehen. Umgekehrt reagierte Desirée auf niemanden so stark wie auf ihre Giulia. «Kam sie zur Tür hinein und rief ‹Hallo!›, richtete sich Desi sofort freudig auf», erinnert sich Mutter Fabiola Steingruber. «Sie konnte nicht reden, hat aber sehr viel verstanden. Bei Witzen lachte sie immer in den richtigen Momenten. Wir wussten deshalb, dass wir vorsichtig sein müssen, wenn wir über sie reden.»
Die Schwester nutzt den Moment
Fabiola spricht damit die letzten Tage von Desirées Leben an. Wegen eines Lungeninfekts kommt die Tochter Ende Januar ins Kantonsspital St. Gallen, und weil sie nicht genug Sauerstoff aufnehmen kann, wird sie auf der Intensivstation intubiert. «Ein schwieriger Anblick», sagt Giulia emotional. Desirée muss fixiert werden. Eine der Pflegerinnen informiert die Eltern, dass der Tubus, einmal entfernt, nicht wieder eingesetzt werden könne. Sie sagt das im Beisein von Desirée – und die wird später einen Moment der Unachtsamkeit des Pflegepersonals nutzen, um sich das Röhrchen aus dem Mund zu reissen.
Eine Woche atmet sie danach noch selbstständig, ehe die Kraft sie verlässt. Giulia befindet sich an diesem Freitag gerade in Behandlung beim Physiotherapeuten, als die Mutter anruft. Ihr mitteilt: «Desi ist eingeschlafen.»
Giulia meldet sich bei Trainer Fabien Martin ab, und als sich dessen Frau und Assistentin Natalia erkundigt, wie es ihr gehe, bricht es aus ihr heraus. Ein Weinkrampf schüttelt sie, «alle wussten natürlich sofort Bescheid». Sie nimmt sich noch die Zeit, sich von allen per Handschlag zu verabschieden, ruft Bénédicte an und bittet sie, sie an den Bahnhof nach Biel zu bringen. Es folgt «die schlimmste Zugfahrt überhaupt». Vater Kurt holt sie in Gossau ab und fährt sie direkt zur aufgebahrten Desirée. «Ich musste sie noch einmal sehen. Sie sah aus wie ein Engel.» Sie zu berühren, traut sie sich nicht. «Ich hatte Angst, dass ich etwas kaputt mache.»
Dass die Schwester trotz ihrer Beeinträchtigung das Schicksal selbst in die Hand genommen hat, rechnet sie ihr hoch an. «Für meine Eltern wäre es schwierig gewesen, das für sie entscheiden zu müssen», denkt sie. Wie ihre Mutter ist auch Giulia überzeugt: «Man unterschätzt die Behinderten. Sie bekommen viel mehr mit, als man meint.»
Die Asche kommt unter eine Linde
Auf Rat eines befreundeten Journalisten informiert die Familie die Öffentlichkeit mit einer kurzen Medienmitteilung: «Im Alter von 26 Jahren verstarb Desirée Steingruber im Kantonsspital in St. Gallen an den Folgen einer viralen Lungenentzündung. Die Beisetzung findet im engsten Familienkreis statt.» Weitere Nachfragen sind unerwünscht.
Desirée wird eingeäschert, die Trauerfeier findet im Haus der Familie Steingruber statt. Mit den Verwandten und einigen Bekannten, Götti und Gotti von Desirée; auch viele der Betreuerinnen aus dem Wohnheim sind da. Die Trauergäste bringen weisse Rosen mit, es sind Fabiolas Lieblingsblumen. Es gibt Kaffee, Brötchen und Kuchen, Fotoalben mit schönen Erinnerungen liegen auf. Ihre Wohnheimbetreuerinnen haben ein Herz mit Eigenschaften von Desirée in Gedichtform gebastelt und tragen den Text nun vor.
«Ich weiss, dass sie befreit ist. Daran zu denken, tut mir gut.»
Beerdigt wird die Tochter nicht, ein Grab auf dem Friedhof hätte für sie nicht gestimmt, sagen Fabiola und Kurt. Stattdessen verstreuen sie die Asche dort, wo Desirée schon als Mädchen so gern war. Wo die Familie häufig mit ihr spazieren ging. Wo die Zeit ein bisschen stillstand: unter einer freistehenden, mächtigen Linde am Stadtrand von Gossau. Es gibt dort ein Bänklein, auf dem sie mit Desirée sassen, mit wunderbarem Fernblick auf den Alpstein und den Säntis, die Ostschweizer Hausberge. «Das ist unser Kraftort», sagt Fabiola. Sie geht oft hoch, um mit ihrer Tochter zu reden. Manchmal auch, um zu schimpfen. Um Dampf abzulassen. Sie vermisst die Nähe zu Desirée, ihr fehlt, mit ihr kuscheln zu können. Oder gebraucht zu werden, während sich die andere Tochter mehr und mehr abnabelt. Manchmal schickt sie Giulia nach dem Besuch ein Foto des Baums nach Biel.
«Es ist schwierig zu akzeptieren, dass Desi nicht mehr da ist. Sie fehlt mir jeden Tag. Aber ich weiss, dass sie befreit ist. Daran zu denken, tut mir gut», sagt Giulia. Nach ihrer Karriere wird sie auf dem Rücken diesen Spruch tätowieren lassen: «A piece of my heart has wings now». Ein Stück ihres Herzens hat jetzt Flügel. Die Botschaft verläuft der Wirbelsäule entlang: «Desirée gibt mir die Energie für zwei.»
Giulia ist froh, steht sie im Frühling 2017 nicht so sehr unter Beobachtung. Weil sie sich im Wiederaufbau nach ihrer Fussoperation befindet, wird sie ihren ersten Wettkampf erst im September bestreiten. Die EM in Stettin findet ohne sie statt, ebenso die zweite Auflage der Europaspiele. Zwei Jahre zuvor hat sie bei der Premiere in Aserbeidschan noch brilliert und gleich vier Medaillen gewonnen, jetzt hat sie einen guten Grund, dem unbeliebten und umstrittenen Anlass fernzubleiben. Ablenkung findet sie in einer Tanzshow des Schweizer Fernsehens. Ihr Partner ist der Berner Spitzenschwinger Remo Käser. Wann immer sie trotzdem öffentlich auftritt, bittet sie, Fragen zu Desirée sein zu lassen.
Ihre musikalische Hommage
Gleichwohl begleitet sie der Tod ihrer Schwester ständig, bis in die Turnhalle. Weil sie das so will. Am Boden studiert sie für die Weltmeisterschaften im Herbst in Montreal eine neue Choreografie ein. Nach der kraftvollen Übung vom Vorjahr und einer sehr rhythmischen Musik, mit der sie das Publikum zum Klatschen animierte, ist die Darbietung jetzt nachdenklicher, die Musik ruhiger. Ein Wechselspiel zwischen Freud und Leid, zwischen Schwermut und Leichtigkeit. Es ist eine Hommage an ihre Schwester: «Ich wollte die spezielle Beziehung, die Desi und ich hatten, auf der Bodenfläche rüberbringen», erklärt sie. Ausgewählt hat sie dafür ein Stück des ungarischen Pianisten Balázs Havasi.
«Zum Mars», heisst es.
Die Wochen und Monate nach der Operation und dem privaten Schicksalsschlag verlaufen harzig. Immer wieder erleidet Steingruber auf dem Weg zurück zu alter Form Rückschläge, sie ist ausgelaugt und schnell mit den Kräften am Ende. Gerade an ihren besten Geräten Sprung und Boden findet sie den Tritt lange nicht. Eines Morgens vor den Sommerferien bricht Cheftrainer Fabien Martin eine Trainingseinheit ab und schickt Steingruber zurück ins Bett. Kopf und Körper sind überlastet, sie braucht Schlaf – und einen Reset.
Die Frage aber, die sie noch im Vorjahr länger beschäftigt hatte, die Frage nämlich, ob sie die Karriere fortsetzen soll – sie stellt sich 2017 nicht mehr. Zu gross ist weiterhin die Befriedigung, die ihr das Kunstturnen gibt. Selbst in angeschlagenem Zustand. Ihr Fokus gilt jetzt der WM und bereits der Zeit weit darüber hinaus. Die Olympischen Spiele Tokio 2020 sind nicht mehr vage am Horizont zu sehen, sondern ihr klar definiertes Ziel. «Das steht für mich zuoberst auf dem Berg», sagt sie einmal. Auch wenn sie nicht mehr so belastbar ist bei den Trainingseinheiten, auch wenn sie in der Trainingshalle nicht mehr den Aufwand stemmen kann wie früher, denkt sie: Einen olympischen Zyklus gibt ihr Körper mit Sicherheit noch her.
Als sie im Oktober an die Titelkämpfe nach Kanada fliegt, macht sie sich nicht allzu grosse Hoffnungen auf eine Medaille. Die WM ist für sie nicht viel mehr als eine Standortbestimmung, was denn sonst? Über 400 Tage hat sie keinen Wettkampf bestritten, die Pause war lang und der Weg seit dem Bodenfinal der Olympischen Spiele in Rio schwierig. Sie weiss selbst nicht so genau, wo sie steht. An den Schweizer Meisterschaften kurz vor der WM muss sie den Gerätefinal abbrechen, weil der Fuss wieder zu stark schmerzt. Es sei aber nicht mehr als eine Vorsichtsmassnahme, gibt sie Entwarnung.
«Ich bin unmöglich und unausstehlich, wenn Giulia turnt.» Am liebsten bleibe sie deshalb jeweils unerkannt.
Doch dann kommt Montreal, diese WM im alten Olympiastadion, und wie sehr sie zumindest in Sachen Mentalität und Willensstärke schon wieder ganz die Alte ist, zeigt sich da auf eindrückliche Weise. Sie mag an sich zweifeln und ist doch, als es zählt und darauf ankommt, voll im Wettkampfmodus, im Tunnel, fokussiert auf den Tag X. Ohne Schwierigkeiten qualifiziert sie sich für den Sprungfinal, und im Mehrkampf kommt sie den Medaillen noch näher als zwei Jahre zuvor in Glasgow. Nur noch gut ein Punkt trennt sie diesmal von Edelmetall. Und am Sprung? Da schliesst sie diese Lücke.
Als erste der acht Finalistinnen muss sie ans Gerät, es ist ein undankbarer Startplatz, weil sich das Kampfgericht bei der Notengebung erst einmal finden muss. Und: Ihr zweites Element, den «Jurtschenko», springt sie erst seit ein paar Tagen sorgenfrei. Steingruber bleibt nicht fehlerlos, beim «Tschussowitina» muss sie sich Abzüge wegen eines Ausfallschritts notieren lassen.
Das schmälert ihre Medaillenchancen zusätzlich, und prompt ziehen gleich die zwei darauffolgenden Turnerinnen in der Rangliste an ihr vorbei – Maria Paseka und Jade Carey. Die nächsten Finalistinnen beissen sich an ihrer Vorlage jedoch allesamt die Zähne aus, eine nach der anderen bleibt hinter Steingruber, einige knapp, andere klarer. Als auch noch die Japanerin Sae Miyakawa als letzte Turnerin des Finalfeldes stürzt, da ist die Entscheidung gefallen: Steingruber bleibt Dritte und gewinnt Bronze. Es ist, endlich, ihre erste WM-Medaille.
Auf der Tribüne springt Mama Fabiola von ihrem Sitz auf und schreit ihre Freude heraus, bevor Ehemann Kurt sie umgehend zurückreisst: Miyakawas Eltern sitzen direkt vor ihr. Fabiola weiss, dass ihre Reaktion «megagemein» ist, aber: «Ich kann das nicht verhindern, so bin ich nun einmal. Ich kann mich nicht verstellen. Ich bin unmöglich und unausstehlich, wenn Giulia turnt.» Am liebsten bleibe sie deshalb jeweils unerkannt.
Mit der Bronzemedaille geht für die Tochter «ein Traum in Erfüllung». Nur einer Handvoll Schweizer Turnerinnen und Turnern ist dieses Kunststück geglückt, seit Turnen im Farbfernsehen übertragen wird: Ariella Kaeslin (2009), Dieter Rehm (1999) und Donghua Li (dreimal von 1994 bis 1996). Es ist für Steingruber ein weiterer Meilenstein auf einem von Meilensteinen gesäumten Weg. «Ich verneige mich vor ihr», sagt Felix Stingelin, der sportliche Verantwortliche beim Schweizerischen Turnverband.
Unmittelbar nach der Siegerehrung steht Steingruber emotional vor den Journalisten: «Ich habe nur noch Hühnerhaut, es fühlt sich an, als fliege alles an mir vorbei. Das Gefühl ist wunderschön. Es macht mich stolz, dass ich so zurückkommen konnte, obwohl ich noch nicht hundert Prozent fit bin.» Die «Berner Zeitung» setzt die Schlagzeile: «Im Stile eines Champions».
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