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Analyse zu den USA vor den Wahlen
Es bedarf nur eines Auslösers für eine Explosion

Die US-Bürger rüsten auf: Ein Mitglied der Proud Boys bei einer Veranstaltung in Portland im Bundestaat Oregon. 
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Am 6. November 1860 wurde Abraham Lincoln nach einem Viererrennen Präsident der Vereinigten Staaten. Kurz danach begann die Sezession der Südstaaten und wenig später der amerikanische Bürgerkrieg. Der Konflikt über die Sklaverei und ihre Ausbreitung in den neuen Territorien im Westen hatte über Jahrzehnte geschwelt. Jetzt brach er sich Bahn und resultierte in vier Jahren Krieg mit hunderttausenden Toten.

Am Dienstag steht den Amerikanern neuerlich eine Schicksalswahl ins Haus, auch diesmal im Zuge einer Polarisierung, die seit langem zugenommen und die Vereinigten Staaten in eine gefährliche Schieflage versetzt hat. Des einen Wahrheit ist des anderen Lüge geworden, eine gemeinsame Realität gibt es nicht mehr. Einen Bürgerkrieg wird es vorerst nicht geben, eher schon einen kollektiven Nervenzusammenbruch, der sich in Wahlanfechtungen, Unruhen und Unregierbarkeit äussern könnte. (Vgl.: Was kommt nach Amerikas Schicksalswahl?)

Seit dem Amtsantritt Ronald Reagans 1981 hat soziale Ungleichheit erschreckend zugenommen und sich eine Oligarchie Superreicher gebildet, deren Einfluss auf die Politik kontinuierlich gewachsen ist. Metropolen mit vielen Minderheiten und das Hinterland, wo überwiegend weisse Amerikaner leben, sind sich spinnefeind geworden. Der Dialog über Parteigrenzen und Hautfarben hinweg ist zusehends problematisch und wird von gegenseitigen Vorwürfen bestimmt.

Obendrein regiert eine Minderheit dank diverser Werkzeuge über eine Mehrheit: Nur einmal seit 1988, nämlich 2004, hat ein republikanischer Präsidentschaftskandidat die meisten Wählerstimmen auf sich vereinigen können. Das antiquierte Konzept des Wahlmännerkollegiums verhalf sowohl George W. Bush 2000 als auch Donald Trump 2016 zum Sieg. Und obschon sie eine Mehrheit im derzeitigen Senat bilden, repräsentieren die republikanischen Senatoren eine Minderheit der Bürger. (Lesen Sie auch: Trump vs. Biden – was Sie jetzt wissen müssen).

Aufrüsten mit Waffen

Dank der Rolle des Senats bei der Bestätigung von Richtern bestimmt diese Minderheit überdies, wer im enorm einflussreichen Obersten Gericht sitzt. Die Verfassung von 1789 müsste behutsam überarbeitet werden, nichts aber wird geschehen, solange die Republikaner trotz einer Minderheitsposition diese Verfassung als Garantin ihrer politischen Macht verstehen. Den demografischen Wandel der amerikanischen Gesellschaft – in weniger als zwei Jahrzehnten werden Minderheiten die weisse Mehrheit ablösen – wird die Republikanische Partei in ihrer derzeitigen Form nicht überleben: Zu überaltert und zu weiss ist sie.

Der Präsident will von diesen Veränderungen nichts wissen. Sein Wahlkampf ist nahezu ausschliesslich auf weisse Wähler ausserhalb der Metropolen ausgerichtet. Donald Trump hat die Polarisierung des Landes vorsätzlich angeheizt, weil er sich davon politische Vorteile verspricht. Und er hat mehrfach damit gedroht, das Wahlergebnis im Falle einer Niederlage nicht anzuerkennen. Seine Partei versucht unterdessen mit Tricks und fragwürdigen Methoden, die Wahlbeteiligung zu drücken. Anstatt den Bürgern die Ausübung ihres demokratischen Grundrechts zu erleichtern, werden Barrieren errichtet. Wählern in Hochburgen der Demokratischen Partei wird oftmals stundenlanges Anstehen vor den Wahllokalen zugemutet. Wegen vermehrter Briefwahl weiss niemand, wann alle Stimmen ausgezählt sein werden.

Mitten in der Coronavirus-Pandemie drohen politische Ungewissheit und vielleicht sogar Ausschreitungen. Über die Hälfte der Amerikaner erwartet laut einer Umfrage eine Zunahme von Gewalt als Resultat der Wahl. Das Land, schon zuvor bis an die Zähne bewaffnet, hat in den vergangenen Monaten im Rekordtempo aufgerüstet.

Das Hoffen auf Versöhnung

Waffenhändler berichten von leeren Vitrinen und Kunden aus allen Schichten und Regionen, die kaufen, womit sich ballern lässt. Dem Heimatschutzministerium und dem FBI zu Folge geht die grösste Gefahr von Rechtsextremen aus, die sich weisser Vorherrschaft verschrieben haben. (Lesen Sie auch den Artikel: Der US-Wahltag und die Angst vor Milizen).

Aber auch Teile der Linken rüsten auf. Das Land befindet sich in einem latenten Konfliktzustand, es bedarf nur eines Auslösers für eine Explosion. Vielleicht löst sich alles in Wohlgefallen auf: Eine faire Auszählung der Stimmen, ein klarer Wahlsieger und ein Verlierer, der wie einst Al Gore nach der umstrittenen Wahl 2000 auf Anfechtungen verzichtet und zur Versöhnung aufruft. Darauf zu wetten ist riskant, darauf zu hoffen nötig.