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Erdrutsch in Schwanden
Gaffer im Gefahrengebiet – was sagt der Psychologe? Und was die Polizei?

Schaulustige staunen ob der Geröll- und Steinmassen, die in Schwanden Häuser unter sich begraben haben.
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«Weiterfahren!» – Die Frau mit dem Funkgerät ist genervt. Sie läuft nervös hinter einem Absperrband hin und her, fuchtelt mit den Armen. Vor ihr auf der Strasse bremsen ständig Menschen im Auto, auf dem Töff oder Fahrrad ab. Sie schauen mit grossen Augen an, was sich hinter der Frau vom Einsatzteam zeigt: Eine 400 Meter lange Spur der Verwüstung. Reflexartig zücken sie das Smartphone und filmen – auch wenn sie mitten auf der Strasse stehen.

Seit im Glarner Dorf Schwanden am Dienstag ein gewaltiger Erdrutsch den Hang runterdonnerte, wollen alle hinsehen. Oder «gaffen», wie es die Gemeindeverantwortlichen nennen.

Ausgerechnet in einer Kurve auf der Hauptstrasse durchs Dorf hat man beste Sicht auf das riesige Rutschgebiet. Das Abbremsen ist gefährlich und blockiert den Verkehr. Auch die zahlreichen Fussgängerinnen und Fussgänger sind für die Einsatzkräfte ein Ärgernis. Sie stehen im Weg. Und locken nur noch mehr Schaulustige an.

«Sie begeben sich in Lebensgefahr»

Hansruedi Forrer ist das nicht gewohnt. Der Gemeindepräsident von Glarus Süd sagt: «Klar, bei einem Brand kamen auch schon Leute schauen. Aber in diesem Ausmass hatten wir das noch nie.» 

Die Gemeindeverantwortlichen um Stabschef Hanspeter Speich sahen sich gezwungen, dagegen vorzugehen. Am Mittwoch stellten sie rund um das Gefahrengebiet über 100 Absperrgitter auf. Inklusive Sichtschutzwänden. «Wir schützen damit letztendlich die Menschen. Wenn sie zu nahe gehen, begeben sie sich in Lebensgefahr», sagt Speich.

Fertig gegafft: Die Gemeinde Schwanden hat zahlreiche Sichtschutzwände aufgestellt.

Gitter allein reichen nicht. Da die Schaulustigen an einigen Stellen problemlos hinter die Abschrankungen gehen könnten, stehen über 10 Einsatzkräfte rund um die Uhr Wache. Eingangskontrolle, quasi. Rein kommen nur Feuerwehrleute, Polizisten oder Geologen.

Ein paar Menschen hätten sich bereits hinter die Gitter geschlichen, sagt Speich. «Die haben wir sofort rausgeholt.»

«Die Leute wissen, dass es unethisch ist, was sie machen.»

Uwe Ewert, pensionierter Verkehrspsychologe

Was die Glarner nun erfahren, kennen andere Polizeikorps nur zu gut. Vor allem bei Unfällen machen Gaffer regelmässig Schlagzeilen. Statt zu helfen, richten sie zuerst die Kamera auf das Unfallgeschehen. Immer wieder kommt es zu Situationen, wo sie den Rettungskräften den Weg zum Unfall blockieren.

Uwe Ewert arbeitete 25 Jahre lang für die Beratungsstelle für Unfallverhütung. Der pensionierte Verkehrspsychologe sagt: «Wenn sich etwas Ungewöhnliches ereignet, ist es ein ganz normaler Instinkt des Menschen, hinzuschauen.» Erstens wolle man wissen, was passiert sei. Zweitens – und das ist gemäss Ewert das gewichtigere Bedürfnis: «Ich möchte wissen, ob ich etwas daraus lernen kann.»

Die Schaulust werde entsprechend gesteigert, wenn es sich um ein Unglück handle, von dessen Umständen man selber betroffen sein könnte. Wie ein Verkehrsunfall, an dem man im Auto vorbeifährt. Und sowieso: «Je spektakulärer das Unglück, desto mehr will ich hinschauen.»

Der massive Erdrutsch ist nicht nur ein verheerendes Naturereignis – es hat auch vielen Menschen das Zuhause geraubt.

Doch die Grenze zwischen natürlicher Neugier und Schaulust ist schnell überschritten. Die sozialen Medien befeuern das Gaffer-Phänomen bekannterweise, da das Bildmaterial dort grosse Aufmerksamkeit generieren kann.

Ewert sagt, den Impuls, hinzuschauen, könne man nicht unterdrücken. Jedoch extra an einen Ort zu fahren, ohne bei der Bewältigung des Unglücks helfen zu können, sei «einfach daneben». Genauso, vom Unglück Betroffene zu filmen. Dagegen tun könne man nicht viel: «Die Leute wissen, dass es unethisch ist, was sie machen.»

St. Galler Polizei büsst Gaffer

Die Kantonspolizei St. Gallen hat sich vor vier Jahren dazu entschlossen, dem Gaffer-Phänomen nicht länger zuzusehen. Auf der A1 war ein Kleinbus in einen Lieferwagen gekracht. Ein junger Mann verstarb. Mehrere Autofahrerinnen und Autofahrer filmten beim Vorbeifahren den Unfall. «Leute – echt jetzt?», schrieb die Polizei daraufhin auf Facebook und stellte ein Video ins Netz, das die Gaffer (unkenntlich) beim Filmen zeigte.

«Das Video ging durch die Decke», erinnert sich Florian Schneider, Sprecher der Kapo. Es wurde fleissig geteilt und kommentiert. Vor allem darüber, wie man die Gaffer bestrafen solle.

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Für die St. Galler Kantonspolizei war es ein Wendepunkt. Sie begann danach mit gezielten «Gaffer-Kontrollen». Wenn die Feuerwehr etwa eine Unfallübung abhält, beobachten Polizisten die vorbeifahrenden Autos, ziehen filmende Gaffer aus dem Verkehr und erstatten Anzeige.

Bei grossen Einsätzen liegt das personell nicht drin. Mit den punktuellen «Gaffer-Kontrollen» will die Polizei vor allem abschrecken. «Wir veröffentlichen die Ergebnisse und erzielen so einen präventiven Effekt», sagt Schneider. 

Persönlichkeitsrechte werden kaum gewahrt

Beim Gaffen im Strassenverkehr ist die Rechtslage relativ klar: Das Filmen am Steuer ist strafbar. Wer an seinem Handy herumfingert, riskiert, seinen Führerschein loszuwerden, hohe Geldbussen oder einen Freiheitsentzug von bis zu drei Jahren.

Besonders ärgerlich ist für die Einsatzleute das Behindern ihrer Arbeit. Egal ob bei einem Autounfall oder bei einer Naturkatastrophe: Wer Rettungskräften im Weg steht und sie daran hindert, Nothilfe zu leisten, muss mit einer Geld- oder bis zu dreijährigen Freiheitsstrafe rechnen.

Hansruedi Forrer, Gemeindepräsident von Glarus Süd, während der Aufbauarbeiten von Schutzwänden.

Bei den Persönlichkeitsrechten greift das Gesetz hingegen kaum. Das wurde Gemeindepräsident Forrer in Schwanden vor allem am vergangenen Dienstagabend bewusst. Wegen des Erdrutschs mussten Dutzende Menschen evakuiert werden. Sie verliessen teils unter Tränen ihr Zuhause. Im Wissen, dass sie womöglich nie mehr dorthin zurückkehren können. 

Schon da seien zahlreiche Kameras auf sie gerichtet gewesen, sagt Forrer. «Das fand ich sehr problematisch. Da geht es letztlich auch um die Persönlichkeitsrechte von Menschen, die sich in einer sehr misslichen Lage befinden.»

Da diese Rechte im Zivilgesetz geregelt sind, müssten die Evakuierten selber Anzeige erstatten. Was voraussetzt, dass sie wissen, wer sie gefilmt hat. 

In der Politik gab es deswegen in den letzten Jahren mehrere Anläufe, die Betroffenen besser zu schützen. Geprüft wurde etwa, ob man Gaffern die Handys oder Kameras sofort wegnehmen dürfe. Bislang ohne Erfolg.