Estland-Trainer Thomas HäberliEr lebt das Abenteuer, zu dem ihm früher der Mut fehlte
Der Start war schlecht, doch nun nimmt Thomas Häberli mit dem baltischen Fussballzwerg Fahrt auf. Das Ziel in der WM-Qualifikation: nicht Letzter werden.
Im März, da lag noch Schnee im hohen Norden, hell war es nicht mehr als sechs, sieben Stunden pro Tag, und Thomas Häberli gab als Nationaltrainer Estlands ein Debüt, das er sich so nie ausgemalt hätte. 2:6 gegen Tschechien, 2:4 gegen Weissrussland, ein ernüchternder Start in die WM-Qualifikation. Häberli schaute im Hotel auf dem Bildschirm zu, nach einem Corona-Fall im Team mussten der Staff und die halbe Mannschaft in Quarantäne. «Es ging ziemlich schlecht los», sagt Häberli.
Im Juni, da erlebte das Baltikum einen rekordwarmen Sommer. Sogar heiss war es, fast 20 Stunden pro Tag schien die Sonne, und Thomas Häberli feierte als Nationaltrainer Estlands den ersten Erfolg. Noch nie seit dem Zerfall der Sowjetunion hatte Estland im Baltic Cup reüssieren können. Mit Häberli klappte es, die Esten gewannen das Dreiländerturnier mit einem 1:0 gegen Litauen und einem 2:1 gegen Lettland – dazwischen schlugen sie in einem Testspiel den grossen Bruder, EM-Teilnehmer Finnland. Grosse Freude über die Premiere. «Da hat für mich mein Abenteuer so richtig angefangen», sagt der 47-Jährige.
Es ist ein Abenteuer, das er bewusst gesucht hat. Im Dezember 2019 muss der Zentralschweizer beim FC Luzern gehen, nach einem 2:1-Sieg gegen Basel, aber auch nach etlichen Niederlagen. Häberli ist ausgelaugt, ihm ist nach frischer Luft im Business. Corona prägt auch den Trainermarkt im Fussball, lange Zeit steht alles still. Im Sommer gibt es für Häberli erste Angebote aus der Challenge League.
Der frühere Stürmer lehnt ab, sucht einen anderen Weg zum Tor. Als Spieler hat er ihn nie gewagt, den Schritt ins Ausland, obwohl er mit seinen 75 Treffern in 283 Spielen für YB auch über die Landesgrenzen hinweg auf sich aufmerksam gemacht hatte. «Mal verliess mich der Mut, mal wollte man mich nicht abgeben.» Aus einer Beratertätigkeit für den estnischen Verein Flora Tallinn ergibt sich Ende 2020 der Job als Nationaltrainer, im Januar 2021 wird Häberli vorgestellt. Das kleine Abenteuer ist perfekt.
Glück im baltischen Sommer
Und ist jetzt schon zehn Monate alt. Der baltische Sommer hat Häberli gutgetan. Aufs neue Schuljahr hin ist auch seine Familie mit drei Kindern zu ihm nach Tallinn gezogen, nur die älteste Tochter blieb in der Schweiz. «Dass ich hier lebe, ist keine Bedingung des Verbands. Aber es macht alles einfacher.» Im Kleinstaat mit 1,6 Millionen Einwohnern findet alles in der Hauptstadt Tallinn statt, auch im Fussball. Hier kann er die Trainings von Flora besuchen, sechs bis sieben Spieler seines Kaders kommen jeweils vom Club, der sich in diesem Sommer als erster estnischer Verein für eine europäische Gruppenphase, für die Conference League, qualifizierte.
EU, Nato, Eurozone – seit der Unabhängigkeit 1991 verlief die Entwicklung im baltischen Staat rasant. Heute ist Estland europäische Spitze bezüglich Digitalisierung. Dass Häberli kein Estnisch spricht, sehen ihm hier alle nach – auch Angehörige der russischen Minderheit, die etwa ein Viertel der Bevölkerung ausmacht, tun sich manchmal schwer mit der Sprache und sprechen lieber Englisch statt Estnisch. Häberli managt in seiner Mannschaft die beiden Sprachgruppen, «man kennt das aus der Schweiz, da läuft das auch problemlos».
Im September erhielt er nach dem turbulenten, von der Quarantäne geprägten Start die nächste Chance in der WM-Qualifikation. Gegen Belgien ging Estland in Führung, zur Halbzeit stand es 1:2, am Ende 2:5. «Wir schiessen unsere Tore, vor allem aber bleiben wir stabil.» Gegen Wales sah Häberli die kämpferisch bislang beste Leistung seiner Mannschaft. 20'000 Zuschauer trieben die Briten in Cardiff nach vorne, «wir wehrten uns richtig gut». Das 0:0 bewertet er höher als die Siege im Sommer, Wales stuft er in der Gruppe hinter Belgien, aber vor Tschechien ein.
Die «Hoffnung» auf Infantino
Und was liegt für Estland drin? «Die Zielsetzung vom Verband lautet: nicht Letzter werden», sagt Häberli und muss lachen. Entsprechend viel verspricht man sich bei den Esten vom Heimspiel am Freitag gegen Weissrussland, einen Konkurrenten auf Augenhöhe. Häberli hat sein Wunschkader fast zusammen, nur sein bester Torschütze Rauno Sappinen (Häberli: «Einer fürs Ausland») fehlt ihm, genauso wie der zuletzt noch in der Serie A tätige frühere Liverpool-Verteidiger Ragnar Klavan.
Hier wird Inhalt angezeigt, der zusätzliche Cookies setzt.
An dieser Stelle finden Sie einen ergänzenden externen Inhalt. Falls Sie damit einverstanden sind, dass Cookies von externen Anbietern gesetzt und dadurch personenbezogene Daten an externe Anbieter übermittelt werden, können Sie alle Cookies zulassen und externe Inhalte direkt anzeigen.
Kürzlich war Gianni Infantino in Tallinn, bei der angestrebten Wiederwahl in zwei Jahren ist er auch auf Stimmen aus dem Baltikum angewiesen. Häberli hat den Fifa-Präsidenten kurz zu Gesicht bekommen. «Wenn er die WM alle zwei Jahre durchsetzt, haben wir vielleicht bessere Chancen», sagt er und lacht wieder. Er ist mittendrin in seinem Abenteuer im hohen Norden. Der Winter kann kommen.
Hier wird Inhalt angezeigt, der zusätzliche Cookies setzt.
An dieser Stelle finden Sie einen ergänzenden externen Inhalt. Falls Sie damit einverstanden sind, dass Cookies von externen Anbietern gesetzt und dadurch personenbezogene Daten an externe Anbieter übermittelt werden, können Sie alle Cookies zulassen und externe Inhalte direkt anzeigen.
Fehler gefunden?Jetzt melden.