Dokumentationsstelle in OberriedenEr kennt die «Schmuckstücke» aus der Oberriedner Vergangenheit
Seit 23 Jahren steigt Werner Waldmeier für den Jahreskalender Oberrieden hinab ins Archiv. Dort liegt seit kurzem auch ein 400-jähriges Buch voller Geheimnisse.

Ein Piepsen unterbricht die Stille. Werner Waldmeier erklärt: «Das ist der CO₂-Messer. Eigentlich müssten wir jetzt etwas lüften.» An diesem Nachmittag in einem Luftschutzkeller unter dem Schulhaus Pünt in Oberrieden wird die Luft mit der Zeit nämlich etwas stickig. Doch was sucht der 86-Jährige in diesem tageslichtlosen Untergrund von Oberrieden?
Laut Werner Waldmeier werden unter dem Primarschulhaus wahre «Schmuckstücke» gebunkert. In diesem Luftschutzkeller, verborgen an der Püntstrasse, befindet sich nämlich die Oberriedner Chronikstube: Dort, wo sich auf Tischen Bücher und Fotos stapeln und die Regale gefüllt sind mit Ordnern, ist das Reich von Werner Waldmeier. Hier hat er allein im letzten Jahr fast 500 Stunden verbracht.
Mit Musik auf Eis
Seit 23 Jahren nämlich steigt Waldmeier immer wieder in den Keller hinab und stellt den Oberriedner Jahreskalender zusammen. Zudem sorgt er als Dorfchronist dafür, dass die Geschichte der Gemeinde fein säuberlich dokumentiert wird.
Der Kalender für das Jahr 2023 widmet sich einem speziellen Jahr: Die Gemeinde feiert ihr 250-jähriges Bestehen. In der Jubiläumsausgabe zeigt Waldmeier Fotos von den vielen Vereinen in Oberrieden.
Waldmeier blättert zum Kalenderblatt vom Februar: «Hier läuft der Musikverein Oberrieden während der Seegfrörni im Jahr 1963 über den See. Das wäre eigentlich verboten gewesen – im Gleichschritt auf Eis zu gehen, ist gefährlich. »

1984 habe er begonnen, in der Chronikstube mitzuarbeiten. Eingeführt in die Archivarbeit wurde Werner Waldmeier vom Gründer der Dokumentationsstelle und einem Berufskollegen. «Ich war jahrelang Primarlehrer in Oberrieden.» Eigentlich sei er aber «ein fremder Fötzel im Dorf» gewesen, erzählt er. Aufgewachsen ist Waldmeier nämlich in Kreuzlingen. Seit 33 Jahren lebt er aber in Oberrieden.
Mit Zeitungslesen begonnen
Seine Leidenschaft für das Weltgeschehen, die Geschichte und das Lesen sei bei ihm in der Primarschule entfacht worden: «Damals habe ich wegen des Koreakriegs mit dem täglichen Zeitungslesen begonnen.» Ab diesem Zeitpunkt habe er «alles verschlungen».

In der Dokumentationsstelle befinden sich rund 14’000 Fotos. «Natürlich muss ich bei der Bildauswahl für den Kalender nicht mehr alles durchforsten. Wir haben alles thematisch geordnet.»
Arbeiten wie im Louvre
Zudem hat er, als er 1999 die Leitung im Archiv übernahm, dafür gesorgt, dass das Archiv fortlaufend digitalisiert wird. «Wir sind zwar nicht der Louvre, aber wir benutzen die gleiche Software», sagt Waldmeier.
Gekonnt navigiert der 86-Jährige am Computer durch das Programm und demonstriert, wie anhand eines Suchbegriffs alle Dokumente dazu gefunden werden können. Obwohl die Hände von Waldmeier zittern und «es langsam mit der Vergesslichkeit beginnt», arbeitet er noch immer mehrmals wöchentlich hier im Archiv.

Neben Waldmeier arbeiten auch noch zwei weitere Mitarbeiterinnen in der Dokumentationsstelle – alles ehrenamtlich. Einmal pro Woche archiviert das kleine Team alle Zeitungsbeiträge zu Oberrieden. In der restlichen Zeit sorgt es dafür, dass Dokumente archiviert werden, die in der Dokumentationsstelle von Privatpersonen oder von Organisationen der Gemeinde abgegeben werden.
Immer wieder muss Waldmeier dafür im Staatsarchiv in Zürich oder beispielsweise im Fotomuseum Winterthur auf die Suche nach Hinweisen zu einem Dokument gehen. «Diese Recherchearbeit ist mein Hobby», sagt der Oberriedner begeistert.
«Es ist wie eine Sucht»
Bis anhin sei das älteste Dokument ein Kaufbrief von 1738 für eine Liegenschaft gewesen. Doch neuerdings ist die Chronikstube im Besitz eines Buches, dessentwegen Waldmeier «fast den Kopfstand gemacht hat». Diese neue Errungenschaft ist fast 400 Jahre alt.
Vorsichtig zeigt er das vergilbte Büchlein aus dem Jahr 1675. «Was wir bis jetzt herausgefundenen haben: Es ist auf Italienisch geschrieben, und es sind sicherlich vier verschiedene Handschriften und unterschiedliche Symbole zu sehen.» Waldmeier vermutet, dass es sich um ein «Sudelbuch» – ein kleines Notizbüchlein – einer Oberriedner Bauernfamilie gehandelt hat.

Um die alte Schrift zu entziffern, diktiert Waldmeier, ausgerüstet mit einer Lupe, seiner Mitarbeiterin die Buchstaben, die er lesen kann. So setzen sich langsam die Wörter zusammen. «Eine Arbeit, die sehr viel Zeit braucht.»
Sowieso sei sehr viel Geduld gefragt. «Sehr oft arbeite ich eine halbe Stunde an einem Dokument und muss dann wieder etwas anderes machen.» Vieles sei Fleissarbeit, wie das Transkribieren eines 600-seitigen Dokumentes.
Immer wieder stösst Waldmeier als Dorfchronist auf «Fundstücke». Deswegen macht er weiter. «Es ist wie eine Sucht – man kann einfach nicht mehr aufhören.» Noch ist die Zukunft der Dokumentationsstelle ungewiss. «Ich hoffe, dass sich ein Nachfolger finden lässt.» Mit 86 Jahren dürfe man sich doch schon langsam pensionieren lassen, witzelt Waldmeier.
Besuche in der Dokumentationsstelle sind auf Voranmeldung möglich. Tel.: 044 720 08 72. Der Kalender kann zum Preis von 25 Franken im Ortsmuseum gekauft oder per Mail via om-oberrieden@oberrieden.ch bestellt werden.
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