Schauspielerin Philippine Leroy-BeaulieuReife Frau dominiert jüngere – die heimliche Hauptfigur von «Emily in Paris»
Schlecht gelaunt, machtbewusst, dominant: Leroy-Beaulieu spielt in der Erfolgsserie Emilys Chefin. Sie müsste höchst unbeliebt sein. Doch Frauen auf der halben Welt feiern sie.

- Sylvie Grateau ist die heimliche Hauptfigur in «Emily in Paris».
- Philippine Leroy-Beaulieu verkörpert die selbstbewusste, sexuell befreite Chefin.
- Serienerfinder Darren Star entdeckt eine neue Nische für ältere Frauen.
Sie verkörpert alles, was dem Zeitgeist zuwiderläuft: Sylvie Grateau, Emily Coopers missgelaunte Chefin in der Erfolgsserie «Emily in Paris». Sie ist ruppig, schnippisch und schlecht gelaunt, machtbewusst, dominant und skrupellos.
Noch schlimmer, sie ist mit ihren rund sechzig Jahren auch alt – und hat es auf eine jüngere Kollegin abgesehen. Sylvie ist also so etwas wie die weibliche Ausgabe eines alten weissen Mannes, oder um es Neudeutsch zu sagen: eine Bitch.
Nach den Gesetzen der Popkultur müsste Sylvie neben der jugendlich unbekümmerten Emily gnadenlos untergehen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Sylvie Grateau hat sich in den bislang vier Staffeln «Emily in Paris» zur heimlichen Hauptfigur der Serie gemausert, Frauen von Paris bis Los Angeles feiern sie.
Philippine Leroy-Beaulieu ist der Inbegriff der Französin
Wie kommt das? Schauspielerin Philippine Leroy-Beaulieu, die Sylvie spielt, weiss es natürlich, gibt sich in Interviews aber kokett: «Ich weiss nicht, warum alle so besessen sind von Sylvie Grateau.» Könnte es damit zu tun haben, dass sie die Rolle von Frauen über 50 gerade neu definiert?
Wie Sylvie ist auch Leroy-Beaulieu, obschon in Rom aufgewachsen, der Inbegriff der Französin: Mit müheloser Eleganz stöckelt sie durch die eben erschienene vierte Staffel der Serie, natürlich in High Heels – flaches Schuhwerk ist für Trampel. Ihre Miene schwankt zwischen gelangweilt und säuerlich, und meist baumelt ihr eine Zigarette von den Lippen. Man kauft ihr die selbstbewusste und sexuell befreite Chefin der Werbeagentur Grateau ohne weiteres ab, inklusive offener Ehe, jüngerer Liebhaber und einer Affäre mit einem verheirateten Klienten. Sie muss niemandem etwas beweisen.
Zu alt für Sylvie Grateau?
Dass die Figur ganz direkt auch etwas mit der Schauspielerin zu tun hat, zeigt ein Blick auf ihr Casting. Ursprünglich wäre nämlich eine deutlich jüngere Frau zwischen 35 und 40 Jahren für die Rolle der Sylvie Grateau vorgesehen gewesen. Beim Casting habe man ihr gesagt, sie sei zu alt für Sylvie, erzählte Leroy-Beaulieu im Interview. Dennoch liess der Casting-Director sie für die Rolle vorlesen, denn Leroy-Beaulieu habe das «gewisses Etwas», das gut zur Figur Sylvie passe.
Leroy-Beaulieu ergatterte den Part trotz ihres Alters, und die Rolle wurde ihretwegen umgeschrieben. Schliesslich ist das Verhältnis zwischen einer jungen Frau und einer, die ihre Mutter sein könnte, ein anderes als das zwischen zwei Frauen, die nur wenige Jahre trennen. Aus dramaturgischer Sicht ist das sehr ergiebig. Böse Stiefmütter und eifersüchtige Königinnen aus der Märchenwelt lassen grüssen.

Weibliche Konkurrenz funktioniert nach anderen Gesetzen als jene zwischen Männern. Sylvie mag Emily nicht und lässt sie das auch spüren. Gleichzeitig braucht sie das Talent, die Jugend und die Perspektive der jüngeren Frau. Diese Ambivalenz bietet Sylvie die Möglichkeit zu zeigen, was reife Frauen jüngeren voraushaben. Sylvie weiss, wo sie sich in den Vordergrund stellen muss und wo sie der Jüngeren das Feld überlassen darf. Sie weiss auch, wie sie Emily dominieren kann, ohne auf deren Talente verzichten zu müssen.
Frauen in Sylvies Alter werden bis heute fast nur als Mütter oder trauernde Witwen besetzt. Manchmal dürfen sie auch herrschsüchtige Figuren spielen wie Meryl Streep, die im Film «Der Teufel trägt Prada» die überhebliche Chefin Miranda Priestly darstellt. Die Figur der Sylvie ist aber einiges komplexer. Denn sie ist nicht einfach nur eine gehässige Bitch, die ihre jüngere Kollegin hasst. Wie ein Kaleidoskop vereint sie positive und negative weibliche Qualitäten in sich. Vor allem hat sie ihre Sexualität nicht bereits aufgegeben wie sonstige Frauenfiguren jenseits der fünfzig. Sondern sie setzt sie gezielt ein. Und zeigt der jungen Generation damit die Meisterin.
Neuauflage der sexbesessenen Samantha
Das ist dem Serienerfinder Darren Star zu verdanken. Er war der Schöpfer der Kultserie «Sex and the City». Deren Fortsetzung «And Just Like That» (ohne Darren Star) fokussiert ebenfalls auf Frauen über fünfzig, verzettelt sich aber in angestrengter Wokeness und depressiven Abgesängen auf die Jugend. Die mutigste Figur, die sexbesessene Samantha, ist nicht mehr dabei – aus Gründen. Sylvie Grateau wirkt ein bisschen wie eine elegantere und ernsthaftere Neuauflage von Samantha und manifestiert so eine bislang von der Unterhaltungsindustrie unentdeckte Nische: Frauen, die Macht genauso geniessen wie Sex und denen egal ist, was ihr Umfeld darüber denkt.
Macht werde bei Frauen nach wie vor nicht akzeptiert, meint Schauspielerin Leroy-Beaulieu. Das mag angesichts von Persönlichkeiten von Angela Merkel bis Kamala Harris übertrieben sein. Tatsächlich aber gibt es wenig positive Vorbilder für weibliche Macht. Bisher galt, dass Frauen, um in einer Welt ernst genommen zu werden, die nach wie vor nach männlichen Wettbewerbsregeln funktioniert, sich wie Männer verhalten und auftreten müssen. «Wir können weit mehr als das», sagt Leroy-Beaulieu. Ihre Figur der Sylvie zeigt, wie es gehen könnte.
«Ich glaube, dass gute Menschen nicht unbedingt nett sein müssen», erklärt sie im Interview mit der französischen «Vogue». «Gute Menschen sind gute Menschen, und manchmal müssen sie auch hart sein. Und für mich steckt darin mehr Wahrheit als in jemandem, der immer nett ist.» Ein Satz, den unterschreibt, wer schon einmal Verantwortung für andere Menschen übernommen hat, als Chefin oder als Mutter. Wer immer nett ist, macht seine Arbeit nicht richtig. Im Gegenzug dazu zeigt Emily die Qualitäten ihrer Generation: Sie bleibt freundlich und lässt sich nicht aus dem Konzept bringen. Das sollte sie auch. Schliesslich wird auch sie irgendwann zu den Älteren gehören.
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