Verblüffende LeichtathletenSie feiern um Mitternacht am Käsestand in Rom
Mit vier Medaillen innert einer Stunde schafften die Schweizer an der EM in Rom Einmaliges. Lob gibt es dafür von ganz oben – und für die Spiele in Paris heisst das wenig.
Irgendwie hatte es seine eigene Symbolik, dass die magische Nacht von Rom beim Stadio Olimpico vor einem Käsestand endete. Schweizer Fans waren um Mitternacht da, Trainer, Betreuerinnen, der Verbandspräsident, einstige Verantwortliche, Eltern der Protagonisten. Alle stiessen auf das noch nie Dagewesene an und stillten ihr Hüngerli mit dem, was die Schweiz eben auch auszeichnet.
Und die Medaillengewinner? Sie hatten kurz zuvor in der Erfolgseuphorie samt und sonders durchblicken lassen, dass ihr Hunger ein anderer ist. Sie wollen noch mehr, sie wissen, dass sie zu noch mehr fähig sind.
Fünf Chancen hatte Swiss Athletics in den Finals am Samstagabend – daraus wurden vier Medaillen, eine silberne und drei bronzene. Nur Siebenkämpferin Annik Kälin landete auf dem vierten Platz. Es ist eine Bilanz, wie sie die Schweizer Leichtathletik an einem Tag noch nie erlebte. Natürlich, dafür braucht es auch ein wenig Zeitplanglück. Aber: Es braucht auch Athletinnen und Athleten, die in der Stunde X bereit sind.
Coe: «Top 5 der aufstrebenden Nationen»
Ein nicht genannt sein wollender Trainer bezeichnete den Output kurz und bündig als «geil!» – Widerspruch brauchte er nicht zu befürchten. Der Aufschwung der Sportart hält seit der Heim-EM 2014 an, ja er wird immer schwungvoller. Zu verdanken ist er nicht nur dem Verband, sondern auch den Vereinen und Clubs im ganzen Land, die ihre Arbeit oft im Frondienst verrichten. Und der UBS, die sich seit Jahrzehnten engagiert und mit Weltklasse Zürich einst den Kids Cup lancierte, dem die heutige, erfolgreiche Generation entstammt.
Sebastian Coe hatte am Nachmittag bei einer Einladung von Swiss Athletics gesagt, er sei nun seit 2015 Weltverbandspräsident, «kein anderes Land hat sich seither so positiv entwickelt wie die Schweiz. Für mich gehört sie zu den Top 5 der aufstrebenden Nationen.» Das war natürlich ein Ohrenschmaus – dem Ditaji Kambundji, Simon Ehammer, Jason Joseph und Dominic Lobalu am Abend auch einen Augenschmaus folgen liessen.
Den glücklichsten Moment erlebte wohl Langstreckenläufer Lobalu, der bei seinem ersten Start für die Schweiz an Titelkämpfen gleich Bronze über 5000 Meter (13:21,61 Minuten) gewann. Gäbe es eine Medaille für den besten Ausspruch des Abends – sie gehörte auch ihm. Auf die Frage, wie es denn gegangen sei, sagte er mit einem breiten Lachen: «Sie rennen alle mit den Armen.» Aufgepasst also im 10’000-Meter-Rennen vom Mittwoch: Es wird hemmungslos gestossen, geschubst und gezogen. Das kann er noch nicht. Dazu ist er noch viel zu anständig. Sein Trainer Markus Hagmann sagt: «Er ist noch zu wenig egoistisch und möchte niemandem im Weg stehen.» Im Ziel dann sei es «the best feeling ever» gewesen, sagte Lobalu.
Nicht das beste, aber vielleicht das zweitbeste Gefühl im Ziel hatte Hürdensprinter Jason Joseph. Kaum ein Schweizer hat seine erste Freiluft-Medaille auf Elitestufe so sehr herbeigesehnt wie er. Dass der erste Start abgebrochen wurde, war wie ein Schuss vor den Bug – Joseph hatte ihn verschlafen. Er erhielt die Möglichkeit, es besser zu machen – es wurde ebenfalls Bronze. In 13,43 Sekunden blieb er weit über seiner Bestzeit (13,07), sagte aber: «Es ist eine Medaille, das ist toll. Es war ein mühsamer, schwieriger und hart umkämpfter Lauf. Wenn das zu Bronze reicht, ist das schön. Und die Saison ist nicht zu Ende.» Klar, mit dieser Leistung ist sein Hunger nicht gestillt. «Das war mein eigentlicher Saisoneinstieg. Nun freue ich mich sehr auf Paris.»
Die Schweizer Leichtathletik hat in den letzten Jahren einige Sternstunden erlebt. An der EM 2016 mit fünf Medaillen, in den Olympianächten von Tokio, als sie wie eine Grossnation in den Sprintfinals vertreten war. Und natürlich an der EM 2022 in München mit sogar sechs Medaillen. Dass mit der erst 22-jährigen Ditaji Kambundji und dem 24-jährigen Ehammer gerade zwei in der Jahresweltbestenliste ihrer Disziplin auf Platz 2 liegen – auch das ist eine Sternstunde. Sie vergeht vielleicht nach den Olympiaqualifikationen der USA und Jamaikas – dennoch.
Zweite der Welt – «das macht Spass»
Kambundji rockte die Hürden wie nie, zeigte wie immer ihre Kaltblütigkeit und flog in fast unwirklichen 12,40 als Zweite ins Ziel. Auf die Siegerin verlor sie 9 Hundertstel, sagte aber auch, dass sie das noch besser könne. «Es macht Spass, solche Zeiten zu laufen. Aber es ist auch gut, wenn ich noch Details weiss, die ich verbessern kann. Das war nicht perfekt.» Seit sie im August Lisa Urech den Schweizer Rekord abnahm, verbesserte sie ihn um eindrückliche 22 Hundertstel. Die Zeit bedeutet auch Europarekord in der U-23-Kategorie.
Und Ehammer ist nicht mehr der Einzige, der die Weitsprung-Nation Schweiz ausmacht. Er ist nach diesem Wochenende auch nicht der Einzige, der in einem Dilemma steckt und das Luxusproblem «Mehrkampf oder Weitsprung an den Spielen?» hat. Kälin egalisierte mit 6,84 Metern den Schweizer Rekord – tritt in Rom ab Dienstag auch noch gegen die Spezialistinnen an, mit fünftbester Weite. Danach beginnt das Abwägen für Paris.
EM-Bronze nach WM-Bronze für Ehammer – es ist seine bereits fünfte Medaille an internationalen Titelkämpfen. Aber es ist nicht das, was den Appenzeller momentan freut. Er sagt: «Ich bin stolz auf die Konstanz in dieser Saison.» Mit 8,41 Metern in der Qualifikation und 8,31 Metern im Wettkampf pflanzte er zwei Sprünge in den Sand, die er jederzeit wieder nähme. Der schlechteste Sprung in einer Wertung ist heuer 8,25 Meter. Dass Miltiadis Tentoglou an Titelkämpfen performe (diesmal mit ungeheuren 8,65 m), sei er schon gewohnt. Genervt hat Ehammer eher die Differenz zum Zweiten. «Diese sieben Zentimeter habe ich auch drauf.»
Sechs bis sieben Medaillen erhofft sich Swiss Athletics in Rom – das Potenzial ist da. Am Montag greift Angelica Moser zum Stab, Mujinga Kambundji ist nochmals unterwegs und auch Lobalu und die Staffeln. Auf dass man sich nochmals am Käsestand trifft.
Fehler gefunden?Jetzt melden.