CO₂-Hebel FamilienplanungEine Zukunft ohne Kinder
Lina Winter ist 27 und wollte immer eine Familie gründen. Wegen der Klimakrise verzichtet sie darauf – und sie ist nicht allein damit. Ist das Leben auf der Erde bald wirklich nicht mehr lebenswert?
Dieser Artikel erschien erstmals am 26. Februar 2022.
Wenigstens ihre Grossmutter versteht sie. Die ist knapp 80, und als Lina Winter (Name geändert) ihr neulich erzählte, dass sie keine Kinder wolle, da habe die Grossmutter sofort genickt: Klar, schliesslich sei die Welt ja in einem desolaten Zustand. Die Überschwemmungen, die Stürme, die Waldbrände, wer wolle das seinen Kindern noch antun?
So viel Verständnis, sagt Lina, bekomme sie sonst selten.
Lina Winter ist 27, beendet gerade ihren Master, und eigentlich wollten sie und ihr Freund Oskar (32) bald eine Familie gründen. Aber mit Blick auf das, was mit dem Planeten passiert, haben sie sich dagegen entschieden. «Das Leben wird ungemütlich», sagt sie. Und er: «Es wäre schon schön. Aber die Politik handelt einfach nicht schnell genug.»
Lina und Oskar sind Teil einer wachsenden Gruppe junger Menschen, die sich gegen Nachwuchs entscheiden, mit der Begründung: Klimakrise. Birthstrike-Bewegung heisst das in Grossbritannien, in der deutschen Sprache gibt es noch kein griffiges Schlagwort.
Über die psychischen Belastungen, die die Klimakatastrophe gerade für Kinder und Jugendliche mit sich bringt, wurde schon viel geschrieben. Trotzdem machte im Herbst eine Umfrage von Wissenschaftlern der Universität Bath Schlagzeilen, in der 10’000 junge Menschen weltweit zu ihrer Zukunftsangst befragt wurden. Drei Viertel sagten, sie hätten Angst vor der Zukunft. Fast die Hälfte gab an, sie zögerten deshalb, eigene Kinder in die Welt zu setzen.
Das sei «eine Tragödie», kommentierte die deutsche Klimaaktivistin Luisa Neubauer die Studie: «Die Regierungen tun immer noch so, als sei die Klimakrise ein abstraktes Phänomen, um das man sich kümmern könne, wenn irgendwann einmal Zeit sei. Es sind die jungen Menschen, die der Krise in die Augen sehen.» Und die deshalb offenbar immer öfter zu dem Schluss kommen, die Zukunft sei nicht mehr lebenswert.
Vier Kinder habe sie früher mal gewollt
Um diese Tragödie zu verstehen, trifft man sich mit Lina in ihrer Mittagspause zum Spaziergang. Es regnet und stürmt. Erster Eindruck: Für jemanden, der eine so radikale Entscheidung getroffen hat, wirkt Lina überraschend fröhlich, fast aufgekratzt.
Vier Kinder habe sie früher mal gewollt, erzählt sie. Nach der Schule habe sie als Au-pair in Australien bei einer Familie mit vier Kindern gelebt. «Ich habe gern viele Menschen um mich herum, und ich mag Kinder wirklich.» Vor drei Jahren aber, als die Fridays-for-Future-Demos überall in den Nachrichten gewesen seien, sei sie in eine Art Wahn verfallen. Sie habe alle Bücher und Artikel zur Klimakrise gelesen, die sie habe finden können.
Als Oskar und sie eine Netflix-Doku des Naturfilmers David Attenborough angeschaut hätten, die den Zustand des Planeten zusammenfasst, sei ihre Entscheidung gefallen. «Wenn man diese ganzen traurigen Fakten einmal im Kopf hat, kriegt man sie nicht mehr raus», sagt Lina. Oskar sagt später am Telefon: «Man möchte seinen Kindern doch ein schönes Erbe hinterlassen. Aber wenn man sieht, was allein in den letzten 40 Jahren kaputtgegangen ist, bleibt da nicht mehr viel Schönes übrig.» Er arbeitet als Unternehmensberater und sagt, er wisse auch deshalb, wie lange solche Prozesse dauerten. «Am Ende gewinnt immer das Geld.»
«Es wird definitiv kein unbeschwertes Leben mehr sein, das meine Kinder führen würden.»
Lina, die gerade ihren Master in Digitaler Innovation macht, fiel in eine «Schockstarre», wie sie es heute nennt. Auch weil in ihrem Umfeld kaum jemand das Problem zu sehen schien. Wenn aber die Mehrheit der Gesellschaft offenbar wie mit Scheuklappen rumlaufe und die drohende Katastrophe ignoriere, ähnlich den Menschen in der Klimasatire «Don’t Look Up» – welche ihrer sonstigen Überzeugungen stimmten dann überhaupt noch?
Etwa die, sie müsse studieren und an ihrer Karriere arbeiten: «Wozu eine Karriere haben, wenn der Planet zugrunde geht?» Warum, fragte sie sich, arbeite nicht lieber jeder Mensch einen Tag in der Woche daran, das Klima zu retten? Solche Fragen stellte sie sich. Und fühlte sich immer schlechter.
Diejenigen, die wegen der Klimakrise auf Kinder verzichten wollen, haben im Grossen und Ganzen zwei Motive. Lina, die zum grösseren Lager gehört, folgt der Überzeugung, dass Kinder in kommenden Jahrzehnten kein gutes Leben mehr hätten.
Sind Kinder der «Klimakiller Nummer eins»?
Aber werden die Menschen in Zentraleuropa nicht noch relativ lang von den übelsten Folgen der Katastrophe verschont bleiben? Wo, wenn nicht hier, würde man die Erdüberhitzung erleben wollen? Lina schüttelt den Kopf, während sie durch den Regen stapft an diesem viel zu warmen Februartag. «Wenn ich allein schon daran denke, was ich letzten Sommer für Kreislaufprobleme wegen der Hitze hatte», sagt sie. Da wolle sie sich nicht ausmalen, wie es in 20 Jahren aussehe.
Und dann, sagt sie, hätten wir noch nicht über die weltweiten Fluchtbewegungen gesprochen, die Hungersnöte, die das Leben in Europa massiv vermiesen würden. «Es wird definitiv kein unbeschwertes Leben mehr sein, das meine Kinder führen würden.»
Das andere Lager denkt bei der Entscheidung noch etwas radikaler. Für sie geht es nicht nur um die mangelnde Lebensqualität, sondern auch um den Klimafussabdruck der Kinder und ihrer Nachkommen. Die Autorin Verena Brunschweiger hat 2019 ein Buch geschrieben, das Kinder zum «Klimakiller Nummer eins» erklärte. Eine Polemik, die viel Gegenwind erhielt.
Genau wie das Voluntary Human Extinction Movement, ein amerikanischer Verein, der das freiwillige Aussterben der Menschheit durch Verzicht auf Nachkommen propagiert: «Irgendwann werden wir sowieso aussterben», sagte ihr Gründer Les Knight einmal in einem Interview mit dem «Guardian»: «Aber es wäre so viel netter, wenn wir uns stufenweise zurückziehen würden. So wie Firmen ihre Belegschaft allmählich reduzieren, ohne jemanden zu feuern.» Diese sogenannte antinatalistische Strömung beruft sich zum Beispiel auf eine Studie, die schwedische Wissenschaftler 2017 veröffentlichten und die Schlagzeilen machte. Als Bewohner eines Industrielands ein Kind weniger zu bekommen, rechneten sie vor, spare pro Jahr rund 58 Tonnen CO₂-Emissionen.
Zum Vergleich: Kein Auto zu fahren, spart über zwei Tonnen CO₂ im Jahr. Ein Transatlantikflug, den man nicht antritt, über anderthalb. Vegane Ernährung: knapp eine Tonne. Die Studie kommt zu dem Schluss, dass es merkwürdig sei, wenn in westlichen Schulbüchern nur davon die Rede sei, Wäschetrockner zu vermeiden oder spritsparende Autos zu fahren, um das Klima zu schonen, aber nicht vom grössten CO₂-Hebel schlechthin: der Familienplanung. Die Wissenschaftler plädieren dafür, diese «wirkungsvollsten Massnahmen, um Emissionen zu reduzieren», viel mehr in den Mittelpunkt zu rücken.
Lina hält ein Happy End für unwahrscheinlich
Kritiker bemängeln daran, dass die Einsparungen durch einen Bevölkerungsrückgang erstens Jahrzehnte dauerten – die man im Kampf gegen die Erderwärmung nicht mehr habe – und dass die Rechnung davon ausgehe, dass der Pro-Kopf-Ausstoss künftig genauso hoch bleiben werde wie heute.
Auch Lina findet das Argument schwierig. Klimaschutz bedeute ja nicht, «dass wir uns entweder als Spezies ausrotten oder aber alle so leben, als hätten wir noch drei Planeten». Vielmehr müssten die Wirtschaft und die Gesellschaft so umgebaut werden, dass ein Kind in der Zukunft ein Leben im Einklang mit dem Klima führen könnte. «Es geht darum, dass wir alle gut leben könnten, wenn wir jetzt alle was dafür täten!» Aber, und das ist eben der Grund für ihre Entscheidung: Für besonders wahrscheinlich hält sie dieses Happy End nicht.
Freunde, die nichts mit Klimaschutz zu tun hätten, reagierten auf ihre Entscheidung oft irritiert. Anfangs habe sie immer mal wieder einen schnippischen Kommentar gebracht, wenn eine Freundin über ihren Kinderwunsch gesprochen habe. Inzwischen verkneife sie sich das. Den Verzicht auf Kinder nennen Fachleute in der Klimadebatte «elephant in the room». Jeder sieht ihn, niemand will darüber sprechen.
Warum, liegt eigentlich auf der Hand: Der Klimaschutz ist längst im Leben vieler Menschen angekommen; von der Küche, wo nur noch Hafermilch in den Kaffee kommt, bis ins Badezimmer, wo das Unverpackt-Shampoo neben der Bambuszahnbürste steht. Spricht man aber über Familienplanung, betritt man thematisch das Schlafzimmer, wo sich niemand gern schlaue Ratschläge abholt.
Manche Aktivistinnen lassen sich sterilisieren
«Wir leben nun mal in einer pronatalistischen Kultur», sagt Zoë Noble am Telefon. Sie meint damit, dass Frauen von klein auf darauf «konditioniert» würden, einmal Mutter zu werden – und wenn sie das nicht wollten, oft als «egoistisch, gefühlskalt oder karrierebesessen» kritisiert würden. Noble ist eine 40-jährige Fotografin aus Grossbritannien. Für ihr Projekt We are Childfree porträtiert sie seit vielen Jahren Frauen, die sich gegen Kinder entschieden haben. Bei den allermeisten stehe dahinter das Gefühl, «das eigene Leben nicht einem anderen Zweck opfern zu wollen», nämlich dem, Kinder aufzuziehen. Aber vor allem bei Jüngeren habe sich in letzter Zeit ein neues Motiv dazugesellt: das Klima.
Lina sagt, selbstverständlich freue sie sich auch für ihre Freundinnen, die gerade Babys bekämen. Genau wie für die, die von ihrem Malediven-Urlaub schwärmten. Überhaupt: Der Blick aufs Individuum, auf die Verfehlungen Einzelner, störe sie. Deshalb möchte sie auch keine anderen Frauen von ihrer Haltung überzeugen. Diskussionen im Freundeskreis über das Thema gehe sie aus dem Weg.
Britische Birthstrike-Aktivistinnen sehen das teilweise anders, einige von ihnen lassen sich sterilisieren, um ihre Botschaft zu verstärken. So weit würde Lina nicht gehen. «Ich wünsche mir einfach, dass wir nicht mehr länger wegschauen», sagt sie. «Und dass wir alles tun, um diese Welt zu erhalten. Ganz egal, ob nun für die eigenen Kinder oder die der anderen.»
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