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Meinung

Kopf des Tages
Eine Mutter liest dem Parlament die Leviten

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«Ich muss es Ihnen sagen: Ich ärgere mich masslos.» Mit diesen Worten richtete sich die Schaffhauser AL-Politikerin Linda De Ventura an den Kantonsrat, zu sehen im Videomitschnitt der Debatte auf Youtube. Dann las sie dem Rat die Leviten. Wolle man junge Frauen oder Eltern in die Politik bringen, müsse man dies vereinbar mit dem Alltag machen. Dazu gehöre auch, dass die Sitzungen des Kantonsrats so stattfinden wie geplant. «Ich kann jetzt leider nicht mehr bleiben, weil ich mein Kind abholen muss.»

Um anderthalb Stunden überzog der Rat die Sitzung. De Ventura verpasste wichtige Abstimmungen. Der Antrag eines Parteikollegen auf Abbruch der Sitzung – auch er musste sein Kind pünktlich abholen – wurde abgelehnt.

Das Problem ist strukturell

Dass der Rat länger berate als geplant, komme zwar selten vor, sagt Linda De Ventura. Aber: «Das Problem ist strukturell.» Es sei schwierig, ein Kind extern betreuen zu lassen, während man politische Arbeit leiste, denn diese finde oft stundenweise und unregelmässig statt. Kitas verlangen, dass Eltern ihre Kinder regelmässig bringen und pünktlich wieder abholen. «Wieso organisieren der Kantonsrat und andere politische Gremien keine Kinderbetreuung für die Anwesenden?»

Noch schwerer wiegt für die Schulsozialarbeiterin jedoch, dass Frauen während des Mutterschaftsurlaubs weder an Beratungen der Kommissionen noch an Abstimmungen des Kantonsrats teilnehmen können. Denn arbeitet eine Frau während ihres Mutterschaftsurlaubs, darf ihr Lohn dafür nicht mehr als 2300 Franken jährlich betragen. Das besagt das Gesetz, sonst verliert sie den Anspruch auf ihre Mutterschaftsentschädigung. Eine Kantonsrätin nehme immer an so vielen Sitzungen teil, dass sie dafür mehr als 2300 Franken erhalte – sie sei damit also de jure von der Politik ausgeschlossen.

Sozialarbeiterin, Politikerin, Mutter: Linda De Ventura wehrt sich dagegen, wegen ihres Vielfachengagements als Rabenmutter bezeichnet zu werden.

«Drei Monate lang fehlte meine Stimme», sagt De Ventura. Sie fordert, dass Mütter während des Mutterschaftsurlaubs ihr Amt freiwillig ausüben oder sich vertreten lassen dürfen. Ähnliche Ideen kursieren bereits in den Parlamenten anderer Kantone.

Mit dem Kind ins Parlament?

Könnte sich De Ventura auch vorstellen, ihr Kind ins Parlament mitzunehmen, wie das bereits andere Frauen getan haben? Beinahe sei es dazu gekommen, als es um eine Abstimmung ging, bei der jede Stimme zählte. Wäre die Abstimmung verspätet erfolgt, hätte sie ihr Kind geholt, vor Ort im Rat betreut und abgestimmt. «Doch das hätte bestimmt ein Theater gegeben.»

Dieses «Theater» gab es tatsächlich schon in der Vergangenheit. In Basel wurde Grossrätin Lea Steinle 2018 des Saales verwiesen, weil sie ihr Baby dabeihatte. Die Aargauer Nationalrätin Irène Kälin (Grüne) erschien mit ihrem Sohn Elija zur Herbstsession im Bundeshaus und erntete dafür Unverständnis.

«Ein politisches Amt ist keine Privatsache, sondern ein Auftrag der Wählerinnen und Wähler», wird Yvonne Schärli von der Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen in einem Artikel der NZZ zitiert. Die Strukturen, um dieses Amt ausführen zu können, müssten am Arbeitsplatz ermöglicht werden. Ansonsten drohe noch mehr Gefahr, dass die Parlamente weiterhin kein Abbild der Gesellschaft darstellten.

So sitzen im Schaffhauser Kantonsrat auch deutlich mehr Männer – zumeist ältere Semester – als Frauen. Ein Grund dafür, so De Ventura, dass es mit der Vereinbarkeit von Beruf und Familie, auch von Politik und Familie, nicht vorangehe. «Für sie ist das weit weg. Und früher war ohnehin klar, wie es läuft» – kommt das Kind, bleibt die Frau zu Hause.

Sie muss sich viel anhören

De Ventura muss sich viel anhören – in der Politik, auf der Strasse. «Wie kriegst du das alles unter einen Hut?» Als sie noch keine Kinder hatte, galt sie den einen als naiv und unerfahren, kaum war sie Mutter, wurde sie gefragt, wieso sie nicht mehr Zeit mit ihrem Sohn verbringe, statt im Rat zu politisieren. Anmassend, findet De Ventura, sie als Rabenmutter hinzustellen. Jene, die ihr vorwerfen, ihr Kind zu vernachlässigen, seien oft selbst Väter, die 100 Prozent und mehr arbeiten.

«Wie machst denn du das?», fragt sie dann zurück, obwohl sie die Kommentare eigentlich sprachlos machen. Oder ob die Person dieselbe Frage auch einem jungen Vater stellen würde – wie es Männern damit gehe, werde oft komplett ausgeblendet. Viele seien irritiert. De Ventura aber glaubt, dass sie so zum Nachdenken anregen könne. Ihre Strategie sei ohnehin die des Trotzes. «Jetzt erst recht.» Nur so könne man Dinge verändern.

Auch ihre Partei, die Schaffhauser Alternative Liste, sei lange eine von Männern dominierte Partei gewesen. «Wir haben gezielt darauf hingearbeitet, attraktiver für Frauen zu werden.» Mittlerweile ist die AL Schaffhausen in Frauenhand, der Ton habe sich verändert – was wiederum mehr Frauen anziehe. Solidarität unter Politikerinnen sei wichtig, so De Ventura, sich gegenseitig den Rücken stärken, Themen aufs Tapet bringen, die ansonsten nicht in der Realität der älteren Herrschaften-Mehrheit auftauchen.

Auf ihr wütendes Video habe sie viele positive Reaktionen erhalten, auch von Männern, auch von solchen, die sich nicht als links bezeichnen würden. Für De Ventura eine Bestätigung.