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Zehn Jahre Arabischer Frühling
Eine folgenreiche Selbstverbrennung prägt die arabische Welt bis heute

Tunesiens Dauerpräsident Zine al-Abidine Ben Ali am Spitalbett von Mohamed Bouazizi. Der Gemüsehändler am 4. Januar 2011.
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Natürlich hat auch die Familie von Mohamed Bouazizi wieder Besuch bekommen. Zum zehnten Mal jährt sich an diesem Donnerstag, dass der damals 26-Jährige sich selbst in der tunesischen Provinz mit Benzin übergoss und, ohne es zu ahnen, in der Folge eine ganze Region in Brand steckte. Und weil Mohamed Bouazizi nicht mehr selbst erzählen kann – er starb wenige Wochen später, am 4. Januar 2011 –, muss das seither seine Familie übernehmen, wieder und wieder.

Reportern der Nachrichtenagentur AFP stand nun eine der Schwestern Mohameds Rede und Antwort: Leila, mittlerweile 34 Jahre alt. «Da ist viel zusammengekommen, was ihn zum Explodieren gebracht hat», erzählt sie.

Wagen und Waage beschlagnahmt

Mohamed Bouazizi verlor mit drei Jahren seinen Vater. Als er zehn Jahre alt war, zog er mit einem Handkarren durch seine Heimatstadt Sidi Bouzid. Er verkaufte Gemüse ohne Lizenz und ohne Hoffnung, in seinem Leben noch einmal etwas anderes zu sein als einer der vielen Arbeitslosen, die sich in der arabischen Welt als Strassenverkäufer durchschlagen, bestenfalls ein paar wenige Franken am Tag verdienen und als Tagelöhner jede Demütigung der Obrigkeit hinnehmen müssen.

An jenem 17. Dezember vor zehn Jahren aber, so bestätigt Leila Bouazizi den Reportern die folgenreiche Geschichte, konnte oder wollte ihr Bruder nicht mehr. Die Polizei beschlagnahmte seinen Wagen und seine Waage, eine Beamtin soll Bouazizi zudem eine Ohrfeige gegeben haben – das war genug. Wenig später brennt ein Mensch vor dem Rathaus der Stadt.

Zehn Tage später steht Tunesiens Dauerpräsident Zine al-Abidine Ben Ali am Spitalbett von Bouazizi. Der Patient ist seiner schweren Verbrennungen wegen am ganzen Körper mit Verbänden eingewickelt. Der Präsident ist irritiert – und selbst wenn er für Bouazizi so etwas wie Empathie übrig gehabt hätte: Wie redet man mit einer Mumie, wie gibt man der mittlerweile in vielen Städten demonstrierenden Jugend ein Zeichen, dass man verstanden hat?

Die Korruption und dynastische Anwandlungen, mit denen die Herrscher anfingen, Söhne oder Schwiegersöhne als Nachfolger in Stellung zu bringen, taten ihr Übriges.

Die Szene im Spital der Provinzhauptstadt Ben Arous zeigte schon die Hilflosigkeit, mit denen das tunesische Regime und bald auch jene in seinen Nachbarländern auf die Demonstrationen reagieren sollten. Argumentativ hatten die Ben Alis und Hosni Mubaraks den Forderungen nach Brot, Gerechtigkeit und Würde ohnehin nur wenig entgegenzusetzen. Schon allein die demografische Entwicklung in ihren Ländern hat dazu geführt, dass ihre Entwicklungsdiktaturen ihre Versprechen von einem besseren Leben nicht mehr einlösen konnten.

Oktober 2011: Anhänger der Ennahda-Partei feiern den Wahlsieg.

Die allgegenwärtige Korruption und dynastische Anwandlungen, mit denen die Langzeitherrscher im Spätherbst ihrer Macht anfingen, Söhne oder Schwiegersöhne als Nachfolger in Stellung zu bringen, taten ihr Übriges.

Als sei die Weltgeschichte ein Jahreskreislauf, sahen Kommentatoren, Experten und Journalisten nun einen Frühling heraufziehen: Erst verliess Ben Ali nach 23 Jahren an der Macht am 14. Januar 2011 überstürzt sein Land. Nicht mal einen Monat später tritt im bevölkerungsreichsten Land der arabischen Welt Hosni Mubarak nach fast 30 Jahren als Präsident zurück, im August kündigt auch der Präsident des Jemen, Ali Abdullah Salih, seinen Rückzug an.

Libyens Machthaber Muammar al-Ghadhafi stirbt im Oktober; nachdem er die Demonstranten in seinem Land als «Ratten» beschimpft hat und beschiessen lässt, autorisiert die UNO Luftoperationen. Zunächst soll so ein Massenmord an der libyschen Bevölkerung durch die Bomber des Diktators verhindert werden – durch die Unterstützung der Rebellen führen sie aber dessen Ende herbei.

Assads Drohung

In Bahrain schlagen saudische Truppen Proteste nieder, in Syrien kündigt Präsident Bashar al-Assad an, das selbst zu tun: Sein Regime bezeichnet die Demonstranten von Beginn an als «Terroristen». Wenn man sein Regime stürzen wolle, sagt Assad 2012 in einem Interview mit einem russischen TV-Sender, «werden die Konsequenzen vom Atlantik bis zum Pazifik zu spüren sein».

Was viele als Kraftrhetorik eines leicht linkischen Diktators abtaten, wird bittere Realität: Der Bürgerkrieg, in den Syrien abgleitet, begünstigt das Entstehen der Terrormiliz Islamischer Staat, die vor allem in der Region, aber auch in Europa mordet. Die Flüchtlingskatastrophe bringt unermessliches Leid über die eigene Bevölkerung – führt im Westen zum Aufstieg populistischer Bewegungen und bringt nach Einschätzung mancher Analysten zufolge dem Leave-Lager entscheidende Prozente beim Brexit-Referendum.

Wird in Europa als «Stabilitätsanker» gepriesen: Ägyptens Präsident Abdel Fattah al-Sisi bei einem Besuch in Paris vergangene Woche.

Europa und die USA sehen dem Morden in Syrien, Libyen und im Jemen zu, nicht minder hilf- und ratlos wie Ben Ali damals am Spitalbett von Bouazizi. Der Iran, Russland, Saudiarabien und die Türkei, allesamt Staaten, die sich nicht gerade die Förderung der Demokratie auf das Banner geschrieben haben, füllen das Vakuum nur zu gern. Zehn Jahre nach Bouazizis Selbstverbrennung ist so in der arabischen Welt alles anders – und gleichzeitig fast nichts. Die Revolutionäre scheitern, ihren Veränderungswillen auch in die Institutionen der Republiken zu tragen. Und selbst wo der Übergang zur Demokratie gelang wie in Tunesien, ist das Parlament heute so zersplittert, dass ein Regieren kaum möglich ist.

General Abdel Fattah al-Sisi sperrt heute mehr politische Gefangene ein, als je unter Mubarak in den ägyptischen Knästen litten.

Während Libyen weiter zerrissen und der Jemen in einem Krieg versunken ist, den die UNO die «grösste humanitäre Katastrophe der Gegenwart» nennt, hat in Ägypten nach kurzem Zwischenspiel der Muslimbrüder wieder ein Soldat die Macht übernommen. General Abdel Fattah al-Sisi sperrt heute mehr politische Gefangene ein, als je unter Mubarak in den ägyptischen Knästen litten, dennoch wird er in Europa als «Stabilitätsanker» gepriesen. Und bekommt auf Europa-Besuchen Orden angeheftet – vergangene Woche in Frankreich etwa bedachte ihn Präsident Emmanuel Macron mit dem Grosskreuz der Ehrenlegion.

Brot, Würde, Gerechtigkeit – all das glauben heute viele junge Menschen in Nordafrika und der arabischen Welt nur im Ausland finden zu können. Die Zahl der Emigrationswilligen ist laut Umfragen von Marokko bis zum Irak auf Rekordhoch; in Tunesien, dem Mutterland des sogenannten Arabischen Frühlings, denken 52 Prozent der 18- bis 24-Jährigen darüber nach, das Land legal oder illegal zu verlassen.

Leila Bouazizi, die Schwester des gedemütigten Gemüseverkäufers, spornt die Jugend dennoch an, nicht nachzulassen: «Es mag mehr als zehn Jahre dauern. Aber die jungen Leute müssen weiterprotestieren, weiter ihre Stimme erheben, um ihre Rechte zu bekommen.» Diesen Satz allerdings sagt Leila Bouazizi weit weg von Sidi Bouzid: 2013 ging sie zum Studium nach Québec – mittlerweile hat sie die gesamte Familie nach Kanada geholt.