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Der ESC und der Krieg
«Dieser kleine Psychopath!»

Politischer ESC: Der kroatische Sänger Zoran Prodanović mit Militärmütze und Josef-Stalin-Bart.
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Der politisch explosivste Moment des Abends kam kurz vor Schluss der Kandidatenrunde. Vier von fünf Mitgliedern der kroatischen Rockband Let 3 hatten sich zu dem Zeitpunkt bereits bis auf die Unterwäsche entkleidet, mitten in der Darbietung ihres gelenksteif schunkelnden Wettbewerbsbeitrags «Mama Šč!». Der Performancekünstler Žanil Tataj schlich derweil hinter ihnen auf die Bühne, verkleidet als karnevalesker, irre grinsender Satanspriester. Und reckte zwei riesige, extrabillig nachgebaute Raketen in die Höhe.

«Dieser kleine Psychopath!», schmetterte Sänger Zoran Prodanović dazu, mit Militärmütze und Josef-Stalin-Bart, zum Mitklatschen: «Kleiner, fieser Psychopath!» Das grosse Finale des Songs, zu dem dann auch noch Bengalo-Fontänen aus den Symbolwaffen sprühten. Der dritte Weltkrieg als Bühnenbild, wie am Ende von Stanley Kubricks Filmklassiker «Dr. Seltsam». Nur mindestens fünfmal so bizarr.

Die grob geschätzten 95 Prozent der weltweit rund 160 Millionen Eurovision-Song-Contest-Zuschauer, die weder Kroatisch verstehen noch einen Feinsinn für krachlederne slawische Wortspiele haben, konnten immerhin später nachlesen, worum es in «Mama Šč!» geht. Nämlich um den Traktor, den Belarus-Präsident Alexander Lukaschenko seinem Freund Wladimir Putin voriges Jahr zum 70. Geburtstag schenkte, und um den Wahnsinn des Diktatorenhandwerks. Ausserdem um das zutiefst lachhafte Geräusch, das landwirtschaftliche Fahrzeuge bei der matschigen Fortbewegung produzieren: «Šč! Šč!», gesprochen: «Tsch! Tsch!» Derselbe Laut, der gut hörbar mitten im kroatischen Wort für «Russland» steckt.

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Die European Broadcasting Union (EBU), die Organisatorin des ESC, hatte sich im Vorfeld noch einmal so klar wie möglich positioniert. Spätestens in dem Moment, in dem sie – wie vorher schon die Oscar- oder Fussball-WM-Köpfe – dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski die erbetene Rede verweigerte. Die Ukraine hatte bekanntlich den Wettbewerb 2022 gewonnen, wäre somit in diesem Jahr der Ausrichter gewesen. Da Kiew für den ESC gerade eher nicht infrage kommt, hatte das zweitplatzierte United Kingdom übernommen. Eine Selenski-Rede beim Finale in Liverpool am Samstag hatte die EBU dennoch abgelehnt: Der Contest sei nun mal keine politische Veranstaltung, hiess die Begründung. Dass man dem Präsidenten in der Absage noch generös «lobenswerte Absichten» zugestand, machte die Demütigung noch umfassender.


Man gab sich Mühe, so viel Ukraine wie möglich zu zeigen

Also übernahmen die Kroaten von Let 3 den schmutzigen Job, mit «Mama Šč!». Sie liessen die eine Hälfte des Publikums angewidert zurück, die andere begeistert. Die provokanten Spassvögel kamen in der Endwertung immerhin auf den 13. Platz, also ins gute Mittelfeld der 26 Finalkandidaten. Was aber nur gelang, weil sie vom Publikum so gewaltig viele Stimmen bekamen. Die Jury hatte Let 3 auf den vorletzten Platz gesetzt. 

Man ist mittlerweile eben auch stark desensibilisiert vom ständigen Solidaritäts-Blau-Gelb, das sich seit dem russischen Angriff auch der letzte Wurstfabrikant in die Fahnen hineingefärbt hat. Die Programmregie in der Liverpooler M&S Bank Arena gab sich durchaus herzliche Mühe, so viel Ukraine wie möglich zu zeigen. So sah man gleich in der Eingangssequenz das Kalush Orchestra, die Gewinnerband von 2022, und viele andere regionale Musikerinnen und Musiker. Erst in Videos an Originalschauplätzen in Kiew, im U-Bahn-Bunker und in Konzerthäusern, dann live auf der Bühne vor den 7000 Leuten.

Julija Sanina, ebenfalls aus Kiew, moderierte im Verbund mit dem BBC-eigenen Trio, und vor jedem der 26 Songs lief ein Filmchen, in dem die Drohnenkamera über ukrainische Wahrzeichen, deren britische Pendants und Ansichten der Teilnehmerländer schwebte. Beim Anblick der glorios farbkorrigierten Bilder, teilweise auch von Brücken und Gebäuden, die im Lauf des Krieges schon beschossen und beschädigt wurden, konnten einem allerdings zwiespältige Gefühle kommen.

Auf der Bühne sang man als Zwischendarbietung derweil «You’ll Never Walk Alone» – Tränen im Publikum, das laut mitsang, und bei Moderator Graham Norton.

Vereint in der Unterstützung für die Ukraine: «You’ll Never Walk Alone» wurde am ESC als Intermezzo angestimmt.

Je nach Lichteinfall war das entweder die aufrechte, unbeugsame Affirmation einer grossen Kultur. Oder eben ein eskapistischer Übersprung, der spätestens in dem Augenblick mitten in der Luft gestoppt wurde, als die Nachricht eintraf, die Heimatstadt der ukrainischen Teilnehmerband Tvorchi sei während der Sendung von russischen Raketen angegriffen worden, womöglich mit Absicht.

Der ukrainische Song, ein düsteres, kirchenorgelndes Downbeat-Stück, landete übrigens auf Platz 6.